| # taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Yalla, Herr Heimatminister! | |
| > „Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsre Heimat | |
| > sind auch all die Bäume im Wald. Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, | |
| > das Korn auf dem Feld und die Vögel in der Luft (…)“. | |
| Bild: Horst Seehofer in seiner Heimat | |
| Im Musikunterricht in der dritten Klasse lernten wir SchülerInnen dieses | |
| Lied. Ich sang „Unsere Heimat“ gern, denn zum einen mochte ich die Melodie, | |
| die sich langsam aufbaute, und zum anderen musste man ab dem dritten Vers | |
| mit viel Luft in der Brust ziemlich hoch singen, was mir leicht fiel. Das | |
| war 1988, ich war ein Ostseekind, trug Latzhose und Zöpfe, und dass die | |
| Mauer bald fallen würde, ahnten unsere Eltern nicht. | |
| Erst Jahre später, inzwischen hatte ich mich gut in meiner zweiten Heimat | |
| Berlin eingelebt, wurde mir klar, dass wir Kinder damals ein Pionierlied | |
| gesungen und ein sozialistisches Heimatbewusstsein besungen hatten. Aber | |
| das interessierte jetzt niemanden mehr. | |
| ## Linsen-Dal und Sesamriegel | |
| Zu meiner neuen Berliner Heimat zählten nun nämlich zum Beispiel meine | |
| Freundin Prashanthy, die – gebürtig aus Sri Lanka – mir oft eine | |
| Tupperdose herrlichstes Linsen-Dal, zubereitet von ihrer Mama, mit zur | |
| Universität brachte. Und der vietnamesische Spätiverkäufer im Parterre | |
| meines Hauses, bei dem ich immer H-Milch und klebrige Sesamriegel kaufte. | |
| Ebenso die türkische Schneiderin auf der gegenüberliegenden Straßenseite, | |
| die meine Second-Hand-Hosen umnähte, oder später meine schwulen | |
| WG-Mitbewohner, wie ich Wahlberliner, nur aus Hessen und Sachsen kommend. | |
| Mein neues, urbanes Zuhause, es hatte die Arme weit geöffnet und mit viel | |
| Neugier meinen Ostsee-Horizont gehörig erweitert: Ich hatte mir eine neue | |
| Heimat erarbeitet. | |
| Um die Heimat Deutschland will sich nun ein konservativer 68-jähriger Bayer | |
| kümmern. Der CSU-Mann Horst Seehofer, Innen- und Heimatminister in spe, | |
| sagte kürzlich, dass er in seinem neuen Amt etwas für die „kleinen Leute“ | |
| tun möchte, das Leben auf dem Land verbessern und Heimatgefühle ernst | |
| nehmen will. | |
| Das ist ja zunächst einmal etwas Gutes. Doch entspricht das blau-weiße | |
| „Dahoam“ Seehofers wirklich dem Heimatgefühl der Menschen in diesem Land | |
| beziehungsweise dem der BewohnerInnen dieser Stadt? Denn wird nach Seehofer | |
| an den Berliner Schulen dann bald berlinert werden? Wird der 28. Oktober, | |
| der Hauptstadtgeburtstag, ein Feiertag, an dem wir mit BVG-Sneakern über | |
| unsere Wies’n, das Tempelhofer Feld, ziehen, Berliner Weiße aus Maßkrügen | |
| trinken und laut „Das ist die Berliner Luft“ singen? | |
| ## Viel zu folkloristisch | |
| Die Besetzung Horst Seehofers als Heimatminister, sie ist zu | |
| rückwärtsgewandt und viel zu folkloristisch, denn längst hat Deutschland | |
| ein viel frischeres Gesicht bekommen. So wie das von Bruno, dem | |
| fünfjährigen Sohn einer Freundin. Als wir vergangenen Sonntag in ihrer | |
| Kreuzberger Küche auf das Abendessen warteten, rief er ungeduldig „Yalla, | |
| yalla“ (etwa „Los, nun macht schon!“ auf Arabisch), sodass die Konsonanten | |
| nur so aus seinem Mund flogen. Beim Tischdecken legt er Messer und Gabel | |
| zuerst „neben den Teller seines Nebenmanns“ und dann neben den „seiner | |
| Nebenfrau“. | |
| Oder meine Freundin Philippa, deren Eltern aus Ecuador und England kommen: | |
| Ihr elfter Kindergeburtstag in der Weddinger Altbauwohnung vor ein paar | |
| Jahren glich in Sachen Vielfalt dem Einzug der Olympioniken bei der | |
| Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele. Ihr Englischlehrer war früher eine | |
| Frau. Gleich in der ersten Stunde erklärte er seinen SchülerInnen, dass er | |
| sich im Übergang vom weiblichen zum männlichen Körper befände und als Mann | |
| angesprochen werden wolle. Danach begann er mit dem Unterricht. | |
| Meine jungen Berliner FreundInnen lebten es vor. Ihr Deutschland ist | |
| vielfältig, lässig und dabei selbstverständlich. Heimathorst könnte einiges | |
| von ihnen lernen. | |
| 18 Feb 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Boek | |
| ## TAGS | |
| Teilnehmende Beobachtung | |
| Bayern | |
| Schwarz-rote Koalition | |
| Integration | |
| Horst Seehofer | |
| Heimat | |
| Heimat | |
| Michael Kretschmer | |
| Innenministerium | |
| Horst Seehofer | |
| Sachsen | |
| Heimatministerium | |
| Chor | |
| Heimatministerium | |
| CDU/CSU | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Grünen-Politikerin Aras über Heimat: „Das Grundgesetz erwärmt das Herz“ | |
| Grünen-Politikerin Muhterem Aras will den Heimatbegriff nicht den Rechten | |
| überlassen – und spricht über Seehofers Ministerium und Halt. | |
| Debatte um den Reformationstag: Die soll meine Schaufel nicht haben! | |
| Sachsens Ministerpräsident warnt andere Bundesländer vor der Einführung | |
| eines weiteren Feiertags. Das erinnert an Sandkastengerrangel – und lässt | |
| Fragen offen. | |
| Eckpunktepapier nach Ostern erwartet: Erstes Abschiebezentrum ab Herbst | |
| Seehofers Plan für das Modell eines Abschiebezentrums nimmt langsam Gestalt | |
| an. Die Bundespolizei soll für die Einrichtungen verantwortlich sein. | |
| Ankündigungen von Horst Seehofer: „Masterplan“ für Asylverfahren | |
| Der designierte Innenminister macht Druck: Er will schnellere | |
| Abschiebungen, mehr Videoüberwachung und „null Toleranz gegenüber | |
| Straftätern“. | |
| Aufnahmestopp im sächsischen Freiberg: Sie könnten, aber wollen wohl nicht | |
| Die Stadt Freiberg möchte keine weiteren Asylbewerber mehr aufnehmen. | |
| IntegrationshelferInnen halten die Notsituation für übertrieben. | |
| Debatte Heimat und Heimatminister: Die Rechten haben im Grunde recht | |
| Weil die Kritik am Heimatbegriff verwässerte, wurde Seehofers Ministerium | |
| möglich. Daraus könnte ein Amt für kulturelle Selbstverteidigung werden. | |
| Chorfest im Radialsystem: Vertrauensbildende Maßnahme | |
| Singen macht Spaß und sorgt für Glücksgefühle. Bei Chor@Berlin, dem | |
| Vokalfest nächste Woche im Radialsystem, gibt man dabei auch dem | |
| gemeinschaftlichen Singen Raum. | |
| Groko-Reaktionen im Netz: #Heimatministerium, hihi | |
| Die Koalitionsgespräche haben genug Zeit gelassen, sich Gedanken über die | |
| #Groko zu machen. Das muss jetzt alles raus. Unsere Social-Media-Schau. | |
| Flüchtlingspolitik der Bundesregierung: CSU attackiert Merkel | |
| Die flüchtlingsfreundliche Politik der CDU passt einigen Parteimitgliedern | |
| der CSU nicht. Die Kanzlerin gibt sich unbeeindruckt und bekräftigt ihre | |
| Entscheidungen. |