# taz.de -- Justiz entscheidet über Fahrverbote: Mehr Luft! | |
> Ein Tag am sechsspurigen Stuttgarter Neckartor – zwischen Diesel, Lärm, | |
> einem Studentenwohnheim und der „Schwabengarage“. | |
Bild: 60.000 Autos täglich: die Bundesstraße 14 am Neckartor | |
STUTTGART taz | Bevor die Stadt zum Leben erwacht, müssen viele der | |
Menschen erst einmal hineinkommen. Morgens um sieben liegt noch Dunkelheit | |
über dem Stuttgarter Kessel, aber die Kreuzung „Am Neckartor“ ist von den | |
Scheinwerfern der Autos hell erleuchtet. Tausende rollen hier jeden Morgen | |
in die Stadt und jeden Abend wieder hinaus. Meistens sitzen die Fahrer | |
alleine in ihren Autos. Im Puls der Ampelschaltungen passieren sie die | |
Mooswände in der Cannstatter Straße, rechts der Stadtpark, links das | |
gigantische Autohaus mit dem schönen Namen „Schwabengarage“, vorbei am | |
orangefarben gestrichenen Studentenwohnheim, vor dem Deutschlands wohl | |
berühmteste Messstation die Luftqualität misst. | |
Sie passieren das Amtsgericht, den ADAC, der ausgerechnet hier seine | |
Zentrale hat, und das Innenministerium rechts, das die Atemluft für seine | |
Beamte möglichst hoch über dem Verkehr ansaugt und sorgfältig filtert. Dann | |
geht es weiter im Verkehrskanal auf der Museumsmeile. Dort gähnt der Krater | |
der Baustelle von Stuttgart 21. Von da an verteilt sich die Autoschlange | |
überallhin in die große Stadt. | |
Das Neckartor gilt als Deutschlands schmutzigste Kreuzung. 60.000 Autos | |
passieren sie im Durchschnitt jeden Tag. Hier führt die Bundesstraße 14 | |
führt sie in die Landeshauptstadt, und vorher sammelt sie all jene ein, die | |
es von den drei Autobahnen in die Schwabenmetropole zieht. Es ist das | |
Einfallstor für die Pendler aus dem Norden, Osten und Westen. | |
Wenn am Neckartor die Grenzwerte nach oben klettern, ist Feinstaubalarm. | |
Andere Städte hängen ein Banner auf, wenn der Karnevalsumzug ansteht oder | |
Helene Fischer sich zum Open-Air-Konzert angekündigt hat. In Stuttgart | |
hängen sie ein quietsch-orangenes Stück Kunststoff an die Fußgängerbrücke | |
über der Neckarstraße, wenn dicke Luft droht: „Feinstaubalarm in Stuttgart | |
ab Montag, den 05. 02.“ | |
## Grenzwerte immer wieder gerissen | |
Die Werte sind über das Wochenende zurückgegangen. In der Woche davor lagen | |
die Messergebnisse noch satt über dem Grenzwert von 50 Mikrogramm. Seit | |
Jahren klagen die Anwohner gegen Stadt und Land, die EU-Grenzwerte endlich | |
einzuhalten. Die Stadt versucht es mit speziellen Reinigungsmaschinen und | |
der Mooswand, die den Feinstaub binden soll. Es hilft ein wenig. Aber die | |
Grenzwerte werden trotzdem an viel zu vielen Tagen gerissen. Dann gilt | |
Feinstaubalarm und damit der Appell, das Auto stehen zu lassen. Wie viele | |
das befolgen und was es bringt, weiß niemand so genau. | |
Damals, als der Ärger mit dem Dieseldreck begann, regierte noch die CDU in | |
Stadt und Land. Inzwischen stellen die Grünen den Ministerpräsidenten und | |
den Oberbürgermeister. Geändert hat das wenig. Gemeinsam haben die | |
Politiker aller Parteien in der Autostadt, dass sie sich vor nichts so sehr | |
scheuen wie vor Fahrverboten. Immerhin haben Daimler und Porsche in der | |
Schwabenmetropole ihre Zentralen. Und wenn die husten, so heißt es, dann | |
habe das ganze Land Schnupfen. | |
„Pfff, die Politik“. Carsten Bruhn steht mit einem mitleidigen Blick im | |
Eingang des Studentenwohnheims, keine 30 Schritte entfernt von der | |
Messstation. Auf den Briefkästen der Studierenden liegen dutzendfach | |
Benachrichtigungen der Paketdienste. Die Lieferungen werden wohl erst nach | |
den Semesterferien abgeholt. Bruhn ist hier der Hausmeister. Auf das | |
Flachdach des Zweckbaus hat er schon viele Wissenschaftler und Politiker | |
geführt. Von den Messungen hält der Hausmeister nicht viel. Es sei doch | |
absurd, sagt Bruhn, da stelle man die Messstation in eine Ecke, wo die | |
Luftverwirbelungen mit Sicherheit für falsche Ergebnisse sorgten, sagt er. | |
## Die schwarzen Filter im Studentenwohnheim | |
Damit will Bruhn nichts beschönigen. Dass die Luft hier schlecht ist, wisse | |
man ja. Der Hausmeister sieht den Schmutz jeden Tag bei seiner Arbeit. Alle | |
drei Monate muss er die Filter in den Studentenapartments austauschen, weil | |
sie mit schwarzem Staub verklebt sind. Zum Beweis schraubt er einen Filter | |
aus der Decke einer Toilette und zeigt die schwarz-pelzige Schicht in dem | |
Filtergewebe. Das gleiche Bild gäbe es wohl, wenn man die Filter in den | |
Fensterrahmen jedes Apartments ausbauen würde. Aber da hat sich seit der | |
Einweihung des Gebäudes vor elf Jahren keiner mehr herangewagt. Bruhns | |
lächelt sarkastisch. Er habe vorgeschlagen, die einfach mit einem | |
Dampfstrahler durchzupusten. Aber dann müsste man ja die ganze Wohnung | |
dahinter anschließend renovieren. | |
Stefanie hat noch nie in die Filter ihres Apartments geschaut. Aber die | |
Studentin weiß natürlich, dass sie hier an der schmutzigsten Straße des | |
Landes wohne, sagt sie. Die junge Frau mit dunklen Haaren studiert seit | |
einem Jahr Maschinenbau, seitdem wohnt sie im Studentenwohnheim. Am Anfang | |
habe sie immer gedacht, sie hätte Schnupfen. Manchmal fand sie Spuren des | |
schwarzen Staubs in ihrem Taschentuch. Ihre Atemwege hätten sich aber | |
inzwischen daran gewöhnt, glaubt sie. Naja, und in Stuttgart sei man halt | |
froh, wenn man überhaupt irgendwo halbwegs günstig wohnen kann. Den Platz | |
im Wohnheim gibt es ab 285 Euro, für Stuttgart unschlagbar. Nur noch ein, | |
zwei Jahre, wird sie hier wohnen, sagt Stephanie. | |
Richtig ist, dass sich die Luftqualität in Stuttgart wie in allen anderen | |
deutschen Großstädten in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verbessert | |
hat. Ältere Stuttgarter erinnern sich noch an die Smogwolke in den 1960er | |
und frühen 1970er Jahren. Krupphusten war damals unter den Kindern kein | |
Einzelphänomen. Das würde heute niemand mehr tolerieren, aber es ist noch | |
lange kein Grund zur Entwarnung. Der Feinstaub-Grenzwert der EU gilt seit | |
17 Jahren. | |
Er wird längst nicht nur am Neckartor überschritten. Das Umweltbundesamt | |
geht davon aus, dass in Deutschland jährlich 47.000 vorzeitige Todesfälle | |
auf die zu hohe Feinstaubbelastung zurückzuführen sind. Deshalb hat die EU | |
für die Partikel in der Luft den Grenzwert von 50 Mikrogramm in der Luft | |
festgesetzt, er darf nur an 35 Tagen im Jahr überschritten werden. Am | |
Stuttgarter Neckartor lag der Wert auch im letzten Jahr an 45 Tagen | |
darüber. Immerhin, 2015 waren es noch 75 Tage. Die schlechte Luft wird also | |
langsam besser, sagen Stadt und Land und hoffen, dass sich dieser Trend | |
fortsetzt. Das sei zu wenig, sagen die Anwohner und auch Experten von der | |
Deutschen Umwelthilfe, die sich nun einen Durchbruch beim | |
Bundesverwaltungsgericht in Leipzig erhoffen. | |
Es ist früher Nachmittag. Der Verkehrsfluss hat Lücken bekommen, sodass man | |
jenseits der Ampel gefahrlos die Neckarstraße überqueren kann. | |
## Der Ladenbesitzer Philipp Scheffbuch | |
Philipp Scheffbuch schaut durch sein Schaufenster auf den Verkehrsstrom und | |
sagt fast liebevoll: „Von hier gucke ich auf den Flow.“ Vor ihm die | |
Stadtautobahn, links die Familienkasse, gegenüber Amtsgericht und ADAC. | |
Hier an der U-Bahn-Haltestelle Neckartor, wo sich der Verkehr gabelt, hat | |
Philipp Scheffbuch seinen Laden aufgemacht. Seit zwei Jahren verkauft er | |
hier, fern ab von den bekannten Einkaufsstraßen, fair gehandelte | |
Markenkleidung. Er sei ganz bewusst nicht in das In-Viertel rund um den | |
Marienplatz gegangen, sagt Scheffbuch. An seiner Kreuzung gebe es | |
vielleicht weniger Laufkundschaft, dafür verkaufe er hier in einer Lage mit | |
extrem viel Verkehr. Wenn nur 0,1 Prozent von denen, die da jeden Tag an | |
seinem Geschäft vorbeifahren, bei ihm mal reinschauen würden, dann würde | |
sein Geschäft durch die Decke gehen. Er mag die Mischung hier, sagt | |
Scheffbuch, der auch gleich um die Ecke wohnt: gute Restaurants und Läden, | |
aber Büdchen und Trash. Die Menschen seien hier immer ein bisschen auf der | |
Durchreise. | |
Scheffbuch hat etwas Widerborstiges. Früher einmal war er Redakteur im | |
Wirtschaftsressort der Stuttgarter Zeitung, erzählt er, aber die | |
Beißhemmung seiner Zeitung vor der Autoindustrie habe ihn genervt. Als dann | |
Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten fusionierten, findet er den | |
Absprung in ein neues Leben und eröffnete seinen Laden. Er tauft ihn | |
ausgerechnet „Schlechtmensch“. In seinem Blog teilt er kräftig gegen die | |
Mächtigen der Stadt aus. Das dürfte zumindest sicherstellen, dass sich | |
nicht die aus seiner Sicht Falschen in seinen Laden verirren. | |
Hier in der Stadt gehe ganz gehörig etwas schief, findet Scheffbuch. | |
Stuttgart sei noch immer mit der mächtigen Autoindustrie verwachsen, auch | |
die Grünen mit einem Ministerpräsidenten, der lieber mit Daimler-Chef | |
Zetsche Lastwagen fährt, als Fahrverbote zu verhängen, und einem grünen | |
Bürgermeister, der das Feinstaub-Problem komplett unterschätzt habe. Und | |
dann ist da der Regierungspräsident mit grünem Parteibuch, der doch | |
tatsächlich den Klägern gegen die Luftverschmutzung angeboten habe, ihnen | |
Filteranlagen in die Wohnung zu bauen. Dabei wisse doch jedes Kind, dass | |
die Feinstaubbelastung die ganze Stadt betrifft. | |
Gemessen wird aber nur am Neckartor und ein paar Kilometer stadteinwärts an | |
der Hauptstätter Straße. Der Gesetzgeber verlangt Messungen dort, wo die | |
höchste Belastung zu erwarten ist. Aber ob die Luft etwa am Marienplatz | |
besser ist, dort wo die Stadtautobahn in den Heslacher Tunnel einmündet und | |
im Sommer die Menschen unter freiem Himmel ihren Chai Latte trinken, ist | |
höchst fraglich. Die Messungen sind komplex und ihre Interpretation erst | |
recht. Verkehrsaufkommen, die Kessellage der Stadt, und die berühmte | |
Inversionswetterlage beeinflussen sie. | |
## Die Bürgerinitiative kämpft nicht nur fürs Neckartor | |
Für die Politik sei das ganz praktisch, sagt Peter Erben und grinst. „Wenn | |
die Grenzwerte überschritten werden, ist das Wetter schuld; wenn sie | |
eingehalten werden, liegt es an den Maßnahmen.“ Erben wohnt seit den 1970er | |
Jahren in Stuttgart. Seit einigen Jahren ist der Handwerksmeister Chef der | |
Bürgerinitiative Neckartor. Sie macht Front gegen die dortige | |
Schadstoffbelastung, aber eigentlich geht es ihr gegen die Verkehrspolitik | |
in ganz Stuttgart, einer Stadt, „die dem Automobil huldigt“. Sogar Tempel | |
dieses bemerkenswerten Kults will Erben ausgemacht haben, wie die | |
Schwabengarage oder die Museen von Porsche und Daimler, die jedes Jahr | |
Tausende Jünger anziehen. | |
Man solle ihn nicht missverstehen, sagt Erben. Als Handwerker sei er selbst | |
auf den Lieferwagen angewiesen, einen Diesel immerhin mit Euro-6-Norm. Ihm | |
komme es darauf an, den Individualverkehr in der Stadt zu reduzieren. Was | |
wäre denn gewonnen, wenn alle Autos plötzlich elektrisch betrieben würden, | |
fragt Erben. Dann wäre zwar die Luft besser, aber noch immer würde der | |
Verkehr die Stadt dominieren. | |
Erben schließt die Tür zum Gemeindesaal der Friedenskirche auf. Hier trifft | |
sich die Bürgerinitiative einmal im Monat. Hier bereiten sie ihren | |
autofreien Donnerstag für den 30. März vor. „Uns geht es nicht nur ums | |
Neckartor“, sagt Erben. Er will verträgliche Verkehrslösungen für alle | |
Stuttgarter, die die Stadt wirklich lebenswerter mache. Da sei die | |
Luftverschmutzung nur ein Faktor neben anderen. | |
Das Neckartor ist für ihn ein Symbol dieses Ziels. Mit seiner sechsspurigen | |
Stadtautobahn und den Unterführungen, die die Fußgänger unter die Erde | |
zwingen, damit der Autoverkehr besser fließen kann, hält er es für ein | |
Relikt aus alten Zeiten, aber eines, an das sich die Autostadt noch immer | |
klammert. Dabei lägen die neuen Konzepte aus Städten auf dem Tisch: eine | |
City-Maut, kostenloser Nahverkehr, all das könnte dazu beitragen, den | |
Verkehr reduzieren. | |
Erben spricht leise und zurückhaltend. Zum Gemeindezentrum über dem | |
Neckartor dringt kaum etwas von dem Verkehrslärm nach oben. Es ist später | |
Nachmittag. Der Berufsverkehr hat längst wieder eingesetzt, jetzt fluten | |
die Autos wieder aus der Stadt. Die Messstelle am Neckartor wird am | |
nächsten Tag dennoch einen weiteren Rückgang der Feinstaubwerte melden. Der | |
Alarm wird um Mitternacht fürs Erste beendet, das Warn-Banner an der | |
Fußgängerbrücke ist verschwunden. Aus Berlin kommt derweil die Nachricht, | |
die Große Koalition wolle den öffentlichen Nahverkehr künftig kostenlos | |
anbieten, wenn der Schmutz überhandnehme. Erste Tests in Großstädten werden | |
angekündigt. Stuttgart, die Autostadt, ist nicht dabei. | |
20 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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