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# taz.de -- Theaterfestival „Spy on me“ in Berlin: Wer sich nackig macht, w…
> Apps und Geräte sammeln Daten. Am besten nutzt man sie nicht. Nur: Sie
> sind praktisch und machen Spaß. Das HAU hat diesen Zwiespalt erkundet.
Bild: Smartphone und Apps sind bequem. Nur: Was passiert mit den Daten?
Berlin taz | Klick. Klack. Die Pendel von rund einem Dutzend Metronomen
schwingen hin und her. Die einen etwas schneller, die anderen etwas
langsamer – klick-klick, klack-klack. Jeder Ton ist ein Herzschlag. Kurz
zuvor haben die Künstler*innen der Gruppe Doublelucky Productions Maß
genommen im Berliner Theaters Hebbel am Ufer (HAU), haben den
Zuschauer*innen den Puls gefühlt und die Metronome danach ausgerichtet. Und
so macht es ein bisschen Gänsehaut, als eine Schauspielerin im gelben
Overall die Metronome nun stoppt; denn immerhin bringt sie hier gerade auch
zig Herzschläge zum Schweigen.
„The hairs of your head are numbered“ heißt das Stück, das im Rahmen des
HAU-Festivals „Spy on me“ vergangene Woche Premiere gefeiert hat. Ob
Facebook, Google, Amazon, die NSA oder die neueste Fitness-App: Wir sind
vermessbar geworden. Nicht nur das, wir vermessen uns selbst.
Daten sind Macht, und wir geben sie nur zu gerne her. „Bei euch aber sind
sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt“, sagt Jesus in der Bibel. Und
fährt fort: „Fürchtet euch nicht!“ Denn, so argumentieren die
Künstler*innen auf der Bühne: Den Menschen in Zahlen, Daten, Information zu
zerlegen, mache ihn begreifbar. „Wer sind wir?“ Keine Frage sei öfter
gestellt worden als jene nach unserem tiefen, unergründlichen Kern.
Doch vielleicht sei es trivialer, schlagen die Künstler*innen vor:
„Selbsterkenntnis durch Zahlen“ – durch Daten und Algorithmen. „Wir kom…
uns jeden Tag ein Stückchen näher. Das ist Selbstermächtigung.“ Um das zu
beweisen, verteilt Doublelucky Productions Handschuhe an Freiwillige:
Kleine, grün leuchtende Sensoren werden mit einem Klettverschluss an
Zeigefinger und Handgelenk befestigt und messen fortan den Herzschlag. Und
das kritische Publikum, das gekommen ist, um sich mit Überwachung und
kompletter Entblätterung zu beschäftigen, steht Schlange. „Another heart
online“, sagt eine Computerstimme wieder und wieder, und noch immer warten
Menschen auf ihren Sensor. Nur im Theaterkontext, nur zum Spaß. Sonst
achtet man natürlich auf seine Daten. Außer eben in Ausnahmefällen.
## „Alexa“ zu Diensten
Und davon gibt es viele. Es ist Weihnachten. Wir Schwestern besuchen unsere
Eltern. Unser Vater hat sich vor kurzem Alexa gekauft – das Kästchen von
Amazon steht in der Küche und hört mit. Sagt jemand „Alexa“, blinkt das
Gerät und will zu Diensten sein. Auf der Hinfahrt habe ich noch überlegt,
die Küche einfach nicht zu betreten – und den Plan schnell wieder
verworfen. Auch der Versuch, über das Teufelsding nur als „Du weißt schon
wer“ zu reden, scheitert bald. Alexa ruft uns sogar etwas zu, wenn wir im
Wohnzimmer über sie reden. Doch eigentlich ist das ganze Geziere hinfällig;
die Wahrheit ist: Wir sind fasziniert von Alexa. Mehrmals am Tag stehen wir
in der Küche und wollen sinnloses Zeug von unserem hauseigenen
Überwachungssystem.
„Alexa, erzähl einen Witz“, fordern wir. „Warum summen Bienen?“, fragt
Alexa, und antwortet: „Weil sie den Text nicht können.“ „Alexa, kauf eine
Tonne von irgendwas“, sagt jemand. Alexas Bildschirm zeigt das Amazonkonto
unseres Vaters, das uns eine metallene Mülltonne zum Kauf vorschlägt. Zum
Glück ohne automatische Kaufeinwilligung.
Es ist das große Dilemma all jener Apps und Geräte, die wie wild unsere
Daten sammeln: Sie machen Spaß. Sie sind praktisch. Sie machen vieles
bequemer. Es reicht ein Befehl an Alexa, und in der Küche ertönt Ton Steine
Scherben. Wir können im neuen [1][Amazon-Go-Laden shoppen, ohne an
irgendeiner Schlange anstehen] oder auch nur Geld oder EC-Karte einstecken
müssen. Wir können die Heizung anwerfen, wenn wir uns auf den Nachhauseweg
machen, und so in eine mollig warme Wohnung kommen, statt erst mal 20
Minuten zu frieren.
Wenn wir an Schlafstörungen leiden, zeichnet eine App für uns auf, was man
früher für den Arzt in mühsamer Handarbeit zusammentragen musste: Wann sind
wir ins Bett gegangen, wie oft aufgewacht, wie lange haben wir wach
gelegen? Wir können über Messenger in Kontakt mit Freund*innen in aller
Welt bleiben; früher hätte das langsame Briefe und teure Ferngespräche
bedeutet.
## Das Internet ist kaputt
Es wäre noch viel schöner, könnten wir all das ohne schlechtes Gewissen
haben. Wenn Privatsphäre nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der
Praxis ein hohes Gut wäre. Wenn unsere Daten sicher wären, weil die Apps
tatsächlich unserem Wohl dienten – und nicht dem Profit privater
Unternehmen. Ein Wunsch, der in einem kapitalistischen System natürlich
utopisch ist.
Doch es gab sie mal, diese Utopie. Daran erinnert im HAU ein anderes Stück
des Festivals: „Colonia Digital: The Empire feeds back“ von Andcompany &
Co. Das Internet ist kaputt. Die Künstler*innen sind auf der Flucht vor
einem Datensturm und landen im „Control Room“ – dem Überbleibsel des
Versuchs, die richtige Software für den Sozialismus zu finden.
Echtzeiterfassung im Sinne der Menschheit. Kurz nachdem Salvador Allende
1970 in einer demokratischen Wahl zum sozialistischen Präsidenten Chiles
gewählt wurde, entstand die Idee für „Cybersyn“.
In einem futuristischen Kontrollraum mit knopfbewehrten Drehsesseln sollten
die Informationen von 400 auf die wichtigsten Fabriken des Landes
verteilten Fernschreiben zusammenlaufen, um Prognosen zu errechnen, Pläne
anzupassen und Probleme akut zu lösen. Geschehen etwa 1972, als der Verband
der Transportunternehmer – finanziert von den USA – streikte und Allendes
Regierung dank Cybersyn die wenigen regierungstreuen Transportfahrer
koordinieren und Lebensmittellieferungen für die Bevölkerung organisieren
konnte.
„Aber wenn sich die Mitte verschoben hat, wo stehe dann ich?“, fragen die
in rote Outdoor-Schlafsack-Anzüge vermummten Schauspieler*innen, die in
ebenjenem Kontrollraum überlegen, was im Auge des Datensturms zu tun sei.
Denn auch die Idee gab es mal: Das Internet als freier, demokratischer
Raum. In Ägypten und Tunesien gingen Menschen für einen radikalen sozialen
und politischen Wandel auf die Straße – und organisierten ihren Protest
über soziale Netzwerke. Menschen, die sonst keine Stimme haben, können sie
im Netz erheben. Können sich finden und verbünden. Sich bestärken. Ein
emanzipatorischer Gedanke, der heute in den Hintergrund gerückt scheint.
Shitstorms. Hate Speech. Sexismus, Gewaltandrohungen, Antisemitismus,
Volksverhetzung. Längst sind es solche gewaltvollen Beschimpfungen, die
Menschen im Netz zum Schweigen bringen. Wenn Frauen sich nach der
Silvesternacht des ausklingenden Jahres 2015 gegen eine rassistische
Vereinnahmung der sexuellen Übergriffe in Köln aussprachen, drohte der
rechte Mob ihnen mit Vergewaltigung. Wenn People of Color sich gegen
Rassismus aussprechen, setzen sie sich diesem erst recht aus.
Wenn die Bloggerin [2][Anita Sarkeesian] Sexismus in der Gamer-Szene
anprangert, mündet das in „Gamergate“ und Morddrohungen. Das ist wohl eher
das Gegenteil von Empowerment. Und so forderten nicht zuletzt linke und
progressive Kräfte, dass Hate Speech im Netz keinen Raum haben dürfte. Dass
dies in Deutschland im NetzDG endete, welches die Plattformen nun auch noch
zu Richterinnen macht und ihre Macht nur noch ausbaut – Ironie der
Geschichte.
Das Herzschlag-Experiment am HAU neigt sich dem Ende entgegen. Die
Herzschlagsensorträger*innen haben brav befolgt, was die Maschine ihnen
vorgibt: Sie sind im Kreis gerannt, um die Frequenz zu erhöhen. Sie haben
Kreidekreise auf den Boden gemalt, um die Frequenz zu senken. Sie haben dem
Durchschnitt ihrer Pulse hinterhergeeifert und das beste Herz des Abends
gekürt. Nun wird die Gruppe getrennt. Wer keinen Sensor trägt, steht dumm
im Raum rum. Wer sich hat vermessen lassen, bekommt Sekt aus
Plastikgläsern. Währenddessen läuft die Datenübertragung an die
Krankenkasse. „Ich hatte das Gefühl, den Sekt verdient zu haben“, wird eine
Zuschauerin im Anschluss an das Stück sagen. Ob nun Sekt oder der
günstigere Versicherungstarif: Wer sich nackig macht, wird belohnt. Es ist
doch so schön.
25 Jan 2018
## LINKS
[1] /Amazons-erster-Supermarkt-ohne-Kasse/!5478837
[2] /Anita-Sarkeesian-ueber-Hetzkampagnen/!5458965
## AUTOREN
Dinah Riese
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