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# taz.de -- Selbstüberwachung für die Gesundheit: Im Bann der Schritte-App
> Wer mit einer Gesundheits-App täglich 8.500 Schritte sammelt, bekommt
> einen neuen Blick auf die Verkehrswege in der Stadt. Doch es besteht
> Schummel-Gefahr.
Bild: Die Geräte können einen ganz schön dominieren: Fitness-Armband und Han…
HAMBURG taz | Stresemannstraße, Donnerstag, 20.10 Uhr. Die Linie 3 fährt
mir vor der Nase weg, der nächste Bus soll in sechs Minuten kommen.
Bibbernd stehe ich bei minus ein Grad in der Kälte. Mein Handy mit der App
steckt tief in der Tasche. Eine Erkältung hat mich aus dem Tritt gebracht.
Zwei Wochen schon habe ich mein Ziel nicht erreicht. Gehen lohnt heute
nicht. Ich stehe und warte.
Vor ein paar Wochen wäre der verpasste Bus ein Geschenk für mich gewesen
und ich losmarschiert. Meine Tochter lud mir im Herbst diese zwei Apps auf
mein Handy. Die eine zählt jeden Schritt. Die zweite kommt von der
Krankenkasse und hat neben einer Belehrung über den Segen des Zufußgehens
für die Fitness auch eine Schritte-Zähluhr.
60.000 von Montag bis Sonntag, also jeden Tag 8.571, müssen es sein, dann
erscheint ein wöchentlicher Siegerpokal: „Du hast es geschafft.“ Über zw�…
Wochen geht das so. Zweimal darf ich das Ziel verfehlen, zehnmal muss ich
es schaffen. Dann bekomme ich 30 Euro oder 60 Euro Zuschuss für Sachen wie
Zahnreinigung.
Die App hat mein Leben verändert. Das Auto war eh verliehen, das Fahrrad –
mit dem ich sonst zum Bahnhof rolle – staubt in der Garage ein. Feste
Schuhe an den Füßen und einen Rucksack auf, wie ein Schulkind den Ranzen,
damit die Arme frei schwingen können (das rät die App), nutzte ich die
Stadt zum Schrittesammeln. Altglas steht bei uns nicht mehr im Flur. Denn
einmal Flaschenwegbringen ergibt 1.800 Schritte.
## Der Arbeitsweg ist ein Segen
Eine Schritte-Goldgrube ist der Arbeitsweg. Einmal zu Fuß zum Bahnhof
Farmsen, quer durch eine Siedlung, die ich sonst meide, bringt schon 1.970
Schritte. Und der weiteste Weg von der Sternschanze zur taz dann noch mal
2.000. Hin- und Zurück habe ich dann fast mein Tagessoll. Als Büromensch,
sagt die App, hätte ich nur schlappe 4.000.
Die Krankenkasse rät, auch mal eine Haltestelle früher auszusteigen. Das
tat ich. Und Busfahren zum Bahnhof fand ich bald lächerlich; noch
verrückter Menschen, die für diese 1.000 Meter ihr Auto nutzen. Meine
Tochter schenkte mir eine Handyhülle am Gurt mit Klick-Verschluss. Ein
cooles Accessoire. Den klickte ich mir um und fühlte mich wie ein
Crew-Mitglied einer Raumschiff-Serie. Ich bin die Schritte-Ritterin, die
Stadt mein Beutefeld.
Die Unabhängigkeit von Busverbindungen verlieh mir ein Freiheitsgefühl. Und
eines Freitagabends Ende November, als mir noch über 30.000 Schritte bis
zum Sonntag fehlten, ging ich einfach von der Schanze bis zum Hauptbahnhof
zu Fuß. Ein schöner Spaziergang, über den Valentinskamp und den Gänsemarkt.
Die Weihnachtsbeleuchtung ging erstmals an. Am Neuen Wall sang ein Chor mit
roten Mützen „Oh, happy day“. 12.387 Schritte waren die Ernte des Abends.
Bei besagter Hochhaussiedlung ging ich noch einen Umweg, weil mich im
Stockdunkeln das gruselige Leuchthalsband eines Hundes erschreckte. Ich sah
nur das bewegte Band, nicht den Hund.
Meine Familie glaubte nicht, dass ich die zehn mal 60.000 schaffen würde.
Aber sie waren solidarisch. Gingen am Wochenende mit mir spazieren an Orte,
wo wir sonst nie waren, etwa durch eine Kleingartensiedlung, lernten das
Viertel in allen Ecken kennen.
## Bei schlappem Akku hört der Spaß auf
Ärgerlich nur, dass zweimal unterwegs mein Handy-Akku abstürzte. 8.000
Schritte weg, die fehlten am Sonntagabend. Dann gingen wir noch mal raus,
die Straße rauf und runter, kurz zum Park, hatten nichts mehr zum Erzählen.
Schritte laufen müssen ohne Ziel und Sinn. Da hört der Spaß auf.
„Nudge“ heißt die Strategie, die Bürger anstupsen soll, sich sinnvoll zu
verhalten, und wozu auch Bonusprogramme der Kassen gehören. Es gibt auch
Kritik daran, das Ganze gilt als fürsorgliche Bevormundung.
Wir begannen zu schummeln. Andere Familienmitglieder sammelten Schritte für
mich. Seither heißt es öfter mal „Nimmst du mein Handy mit“, wenn einer
Laufen geht. Es gibt viele Tricks und viele, die im Bann der App stehen.
Ein älteres Ehepaar geht kleine Trippelschritte, eine Freundin meiner
Tochter schüttelt ihr Handy auf und ab, wenn sie in der Vorlesung sitzt.
## Der Gipfel der Stumpfheit
Und seit Weihnachten haben wir ein Ding in unserer Wohnung, das ich früher
nie erlaubt hätte: ein Laufband. Der Gipfel der Stumpfheit, hätte ich
früher gesagt. Seit Januar bin ich im zweiten Durchlauf und dabei, mich
etwas von der App zu emanzipieren. Meine Kinder verrieten mir, dass ich sie
jederzeit stoppen und neu starten kann.
20.26 Uhr. Endlich, der Bus kommt. Steif und unzufrieden vom Stehen steige
ich in den grell beleuchteten Fahrgastraum. Kein Sitz frei, schnell eine
Haltestange fassen, weil der Bus so schaukelt. Und als ein Rollifahrer mich
bittet, auch da wegzugehen, wo ich stehe, „Entschuldigung, ich muss da
hin“, raunze ich ihn an: „Ja, machen sie doch.“ Meine Laune ist im Keller.
2 Feb 2019
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
Gesundheit
Smartphone
Fitness
Krankenkassen
Versicherung
Digitalisierung
Streitfrage
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