# taz.de -- Artenschwund und Fächersterben: Wissenschaftliche Sorgenkinder | |
> Der Artenschwund und das Verschwinden von Lehrstühlen, die sich mit der | |
> biologischen Vielfalt beschäftigen, gehen Hand in Hand. | |
Bild: Eine Hummel auf Nahrungssuche: Genaue Daten über den Insektenschwund gib… | |
Berlin taz | Auf das Insektensterben sind zuerst private Bürgerforscher | |
aufmerksam geworden, nicht Wissenschaftler in Hochschulinstituten. Der | |
tiefere Grund für diese Diskrepanz ist, dass es neben dem realen | |
Artenschwund in Fauna und Flora auch ein stilles Fächersterben in der | |
Forschung gibt. Durch das Aufgeben vermeintlich antiquierter Fächer wie | |
Taxonomie und Ökotoxikologie wächst die wissenschaftliche Unkenntnis vor | |
allem im Umweltbereich. Hinzu kommt die fehlende Kontrolltätigkeit. | |
„Ich finde es schockierend, dass an deutschen Hochschulen die Artenkenntnis | |
nicht mehr ausreichend gelehrt wird“, sagt Werner Kratz, der als | |
Privatdozent am Fachbereich Biologie der Freien Universität (FU) Berlin | |
unterrichtet. „Was wir jetzt beim Insektensterben bejammern, hat auch damit | |
zu tun, dass diese Themen im akademischen Bereich nicht mehr bearbeitet | |
werden“. Bedrückt hat Kratz mitverfolgt, wie in den letzten Jahrzehnten ein | |
taxonomischer Lehrstuhl nach dem anderen geschlossen wurde, wie zum | |
Beispiel an den Unis in Braunschweig und Göttingen. Taxonomie ist die | |
Wissenschaft von der Bestimmung der Arten in der Tier- und Pflanzenwelt. | |
In seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Mitglied des Naturschutzbundes | |
Deutschland kümmert sich Kratz darum, dass unter den naturinteressierten | |
Bürger eine taxonomische Grundbildung gestärkt wird, um Vögel, | |
Schmetterlinge, Blumen und Unkräuter besser benennen zu können. | |
Ein weiteres wissenschaftliches Sorgenkind: „Auch die Ökotoxikologie, die | |
sich mit den Auswirkungen der Chemie auf die Umwelt beschäftigt, wird bei | |
uns auf Sparflamme gehalten“, merkt Kratz an, der das Fach an der FU Berlin | |
vertritt. Nur noch fünf universitäre Lehrstühle bundesweit sind übrig | |
geblieben, darunter in Berlin die Humboldt-Uni, die RWTH Aachen und die | |
Unis Leipzig und Koblenz-Landau. Vor Jahren waren es noch doppelt so viele. | |
Hubert Weiger, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) | |
und studierter Forstwissenschaftler, kann für das Fach Freilandökologie | |
ebenfalls vier Lehrstühle aufzählen, die in den letzten Jahren zu neuen | |
Modefächern wie Bioenergie umgewandelt wurden. „Dies liegt aber nicht | |
daran, dass bei den Studierenden das Interesse abgenommen hätte“, erklärt | |
Weiger. „Sondern es gibt kaum noch staatsfinanzierte Forschung in diesem | |
Bereich.“ Immer stärker ist der Forschungsbetrieb auf sogenannte | |
Drittmittel angewiesen, doch kommen die bei den umweltbezogenen Fächern | |
weniger von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), sondern aus den | |
Kassen der chemischen Industrie. | |
## Zufällige Erkenntnisse | |
Am Beispiel des Pflanzenschutzmittels Glyphosat macht Weiger deutlich, wie | |
die unzureichende Forschungsfinanzierung unabhängige Wissenschaft | |
behindert. Untersuchungen darüber, dass Glyphosat auch in den menschlichen | |
Körper gelangt und über den Urin wieder ausgeschieden wird, wurden durch | |
Messungen an der Tiermedizin der Uni Leipzig angestoßen. „Aber dieses | |
Forschungsprojekt der Tiermedizin wurde nur möglich“, berichtet Weiger, | |
„weil ein befreundeter Humanmediziner an der Uni Leipzig der | |
Veterinärforscherin Finanzmittel zur Verfügung stellen konnte.“ Das | |
Beispiel zeigt: Wichtige Erkenntnisse über die Wirkung einen umstrittenen | |
Pestizids kommen nur zufällig und auf Umwegen in Gang. Dabei wäre | |
systematische Forschung dringend geboten, auch um die Zulassung der | |
Wirkstoffe auf eine sichere Basis zu stellen. | |
Diese Forderung erhebt der System-Ökotoxikologe Matthias Liess vom | |
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig schon seit geraumer Zeit. | |
Auf Einladung des Bundes für ökologische Lebensmittelwirtschaft (Bölw) | |
stellte Liess jetzt zur „Grünen Woche“ in Berlin seine Forschungsergebnisse | |
zum Artenschwund in Bächen und Seen vor. | |
„In Deutschland, aber auch weltweit, verursachen Pestizide dramatische | |
Probleme in Gewässern“, hat Liess bei seinen Messungen herausgefunden. | |
„Pestizide verändern grundlegend die Lebensgemeinschaften, vermindern die | |
Biodiversität der Lebensgemeinschaften und die natürliche Selbstreinigung | |
des potenziellen Trinkwassers“, so der UFZ-Forscher. Bei Eintrag der | |
Unkrautkiller in die Gewässer nimmt dort die Artenvielfalt um die Hälfte | |
ab. In Berlin sprach Liess sogar von einem Rückgang in der Größe des | |
Insektensterbens, das auf 70 Prozent veranschlagt wird. | |
## Die Zulassungsverfahren versagen | |
Liess kritisierte in Berlin, dass diese Erkenntnisse nicht von den | |
zuständigen Stellen für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln | |
aufgegriffen werden. „Die Zulassungsverfahren versagen“, ist die Meinung | |
des Ökotoxikologen. Es werde auf Nachkontrollen verzichtet. Die Lage bei | |
den Pestiziden ähnele dem „Dieselgate“ der Automobilbranche. Dort hätten | |
sich die staatlichen Kontrolleure zu sehr auf die Abgasmessungen in | |
Laborumgebungen verlassen, statt auf die realen Fahrbedingungen zu schauen. | |
Ebenso klaffe die Bewertung und Wirkung bei den Pflanzenschutzmitteln | |
auseinander. | |
Entsprechend fordert BUND-Vorsitzender Hubert Weiger, die Zulassungsprüfung | |
für Pestizidwirkstoffe und Pestizide künftig „nur noch von unabhängigen | |
Wissenschaftlern“ durchführen zu lassen. „Die notwendigen | |
Zulassungsprüfungen dürfen nicht mehr von den antragstellenden | |
Pestizidfirmen, sondern müssen von unabhängigen wissenschaftlichen | |
Instituten durchgeführt werden“, lautet eine der Forderungen der | |
Umweltorganisation an die nächste Bundesregierung. Die Vergabe der Studien | |
müsse durch die Zulassungsbehörden erfolgen. Die Untersuchungen sollten | |
„über einen industrieunabhängig verwalteten Fonds finanziert werden, der | |
sich aus Gebühren der antragstellenden Firmen“ speise. | |
Einen weiteren Finanzierungsvorschlag zur Stärkung der Ökoforschung brachte | |
in dieser Woche Bölw-Vorsitzender Felix Prinz zu Löwenstein ein. Derzeit | |
würden von den Mitteln für die Agrarforschung in deutschen Hochschulen und | |
Forschungsinstituten nur 1,5 Prozent für ökologische Fragestellungen | |
ausgegeben. Da aber nach der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie in einigen | |
Jahren 20 Prozent der Agrarfläche ökologisch bewirtschaftet werden soll | |
(derzeit rund 10 Prozent), sei es konsequent, dafür auch ein Fünftel der | |
Agrarforschungsgelder einzusetzen. | |
## Frühe Warnungen | |
Während sich die einen für eine „Agrarwende“ engagieren – auch mit der | |
Demonstration [1][„Wir haben es satt“] am Samstag in Berlin –, kämpfen | |
andere für eine Wende im Wissenschaftssystem. Auf die Verluste von | |
ökologischen Disziplinen hatte bereits 2012 das vom BUND herausgegebene | |
Memorandum „Nachhaltige Wissenschaft“ aufmerksam gemacht. Einer ihrer | |
Autoren war der Präsident des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, | |
Energie, Uwe Schneidewind. | |
Den Fächerschwund hat der Aufruf erkennbar nicht aufhalten können. Wie | |
beurteilt Schneidewind darüber hinaus aus heutiger Sicht die Veränderungen | |
in der Wissenschaft? „Das BUND-Papier hatte eine wichtige Weckruffunktion“, | |
äußert sich Schneidewind auf Anfrage der taz. „Es hat zu einem Aufhorchen | |
in der Politik und im BMBF geführt und mit der Gründung der | |
zivilgesellschaftlichen Plattform Forschungswende eine zentrale Fortsetzung | |
gefunden.“ | |
Von einer „Gesellschaftsgetriebenen Wissenschaftspolitik“ jedoch, so die | |
Forderung im BUND-Papier, „sind wir aber noch weit entfernt“. Die | |
wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten von Forschung „dominieren immer | |
noch und werden aktuell wieder stärker“, urteilt Schneidewind. „Die Art der | |
Beteiligung der Zivilgesellschaft bleibt immer noch eher randständig.“ Auch | |
einige vielversprechende Ansätze auf Ebene einiger Bundesländer seien | |
„heute eher schwächer als 2012“. Daher sei wichtig, dass der damals | |
ausgelöste Elan für eine transformative Wissenschaft „nicht weiter | |
nachlässt und die Kapazitäten der Zivilgesellschaft für eine | |
Wissenschaftsbeteiligung in der laufenden Legislatur gestärkt werden“. Der | |
Beitrag des Wuppertal-Instituts war dazu vor einigen Wochen auch die | |
erstmalige Verleihung des „Preises für transformative Wissenschaft“ in | |
Berlin. | |
19 Jan 2018 | |
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## AUTOREN | |
Manfred Ronzheimer | |
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