# taz.de -- Berichterstattung zum Totschlag in Kandel: Null Relevanz von Einzel… | |
> Nach Kandel wird Medien Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen | |
> vorgeworfen. Aber das Betrauern Einzelner ist nicht Aufgabe der Presse. | |
Bild: Bis zur Pressekonferenz war wenig bekannt, aber schon viel geraunt worden | |
In Rheinland-Pfalz wird ein Mädchen getötet und eine knappe Woche später | |
haben wir eine Debatte um Staatsversagen, Zensur und die Vermessung der | |
Skelette von Flüchtlingskindern. Mittendrin: die Medien. In einer weiteren | |
Rolle: die populistische Verkürzung von Tatsachen. | |
Die Ereigniskette war die folgende: Am Mittwoch vor Silvester um 19 Uhr | |
vermeldet das Polizeipräsidium Rheinpfalz ein Tötungsdelikt in Kandel. | |
Dabei betont die Polizei mit der Formulierung „[1][Streit zwischen einem | |
15-jährigen Afghanen und einer 15-jährigen Deutschen]“ den Aspekt | |
Nationalität sehr stark. Knapp 20 Minuten später tickert die Deutsche | |
Presseagentur von Berlin aus: „15-jähriger Afghane ersticht Mädchen im | |
Supermarkt“ – wieder eine Betonung der Nationalität, die man bei der | |
Agentur rückblickend [2][für nicht angemessen hält]. | |
Erst als sich am darauffolgenden Donnerstag um 13 Uhr die Polizei in einer | |
Pressekonferenz äußerte, wurde Näheres zu dem Fall bekannt – zum Beispiel, | |
dass es sich bei dem Tatverdächtigen um einen minderjährigen Flüchtling | |
handelt. | |
Trotzdem sah sich die Tagesschau-Redaktion bereits um 16 Uhr desselben | |
Tages – also lange vor der Hauptsendung um 20 Uhr – veranlasst, [3][per | |
Blogbeitrag] zu rechtfertigen, warum sie bisher nicht berichtet hatte. Man | |
werfe der Redaktion in den sozialen Medien vor, das Thema zu verschweigen, | |
schrieb Vize-Chefredakteur Marcus Bornheim. Und erklärte: „tagesschau und | |
tagesschau.de berichten in der Regel nicht über Beziehungstaten. Zumal es | |
hier um Jugendliche geht, die einen besonderen Schutz genießen.“ | |
## Könnte ja sein, kann aber auch nicht sein | |
Anlass genug für rechte Denker*innen, sich über das angebliche | |
„[4][Beschweigen]“ des Vorfalls zu äußern; und für Vertreter*innen eines | |
selektiven Feminismus, zu behaupten: Der Verweis auf die „Beziehungstat“ | |
sei eine Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen. Der Täter werde geschützt, | |
das Opfer nicht einmal betrauert – das Technikportal heise.de gibt seinem | |
Text gar den Titel „[5][Das unwerte Leben der Mia aus Kandel]“. | |
Spielen wir das Ganze an einem anderen Fall durch: Zwei Tage nach Kandel, | |
am 29. Dezember, ersticht ein 49-jähriger Mann in einem Einkaufszentrum in | |
Halle seine 40-jährige Frau. Auch dieses Ereignis geht als Polizeimeldung | |
raus, wieder tickert die Deutsche Presseagentur. Und doch bleibt es bei | |
simplen Meldungen in der Regionalberichterstattung. Wir verlinken diese in | |
der Onlineversion dieses Artikels nicht, weil das Opfer ein Recht darauf | |
hat, in Ruhe gelassen zu werden. Genau darum geht es nämlich. | |
Man hätte hingegen auch darüber schreiben können, dass hier ein Russe eine | |
Ukrainerin ermordet hat. Dass es sich womöglich um das tragische Ende einer | |
ostdeutschen Migrationsgeschichte handelt. Könnte ja sein. Kann aber auch | |
nicht sein. Klar ist: Der Fall hat überregional null Relevanz. | |
## Der Name ist: Rassismus | |
Es stimmt natürlich, dass Gewalt gegen Frauen in Beziehungen häufig nicht | |
ernst genommen, nicht genug politisiert wird. Und doch: Fälle wie der in | |
Kandel, wie der in Halle, gab es 2017 zuhauf. Ein halbes Dutzend (ohne | |
Beteiligung von Flüchtlingen) findet sich auf Anhieb in den Archiven der | |
Regionalpresse. Keiner davon wurde zum Anlass genommen, männliche Gewalt in | |
Beziehungen zu beklagen. | |
Weil eben, so hart das klingt, der Einzelfall dafür kein Gradmesser sein | |
darf. In der statistischen Häufung, in den Trends liegt die Relevanz: | |
Jährlich werden laut Kriminalstatistik etwa 150 Frauen von ihrem | |
(Ex-)Partner umgebracht. | |
Das Betrauern Einzelner jedoch ist nicht Aufgabe der Presse. Opfer und | |
Angehörige verdienen Schutz vor Gaffern. Und ja, auch ein mutmaßlicher | |
Totschläger verdient Schutz vor politischer Instrumentalisierung. Wenn bei | |
einem Afghanen andere Maßstäbe angelegt werden, hat das einen Namen: | |
Rassismus. | |
Inzwischen ist das Ereignis in Kandel natürlich doch von überregionalem | |
Interesse. Durch die Aufmerksamkeit in den sozialen Medien, die | |
ARD-Stellungnahme und die jüngsten Forderungen nach Altersprüfung und | |
schnellerer Abschiebung lässt sich das Ereignis nicht mehr auf die lokale | |
Ebene runterkochen. Ist deshalb in Zukunft jede Vorsicht seitens | |
Redaktionen bei vergleichbaren Fällen verzichtbar? Hoffentlich nicht. | |
3 Jan 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/117696/3825696 | |
[2] /Kolumne-Gehts-noch/!5470616 | |
[3] http://blog.tagesschau.de/2017/12/28/kandel-wie-die-tagesschau-damit-umgeht/ | |
[4] http://www.theeuropean.de/alexander-wendt/13303-der-krieg-gegen-frauen-hat-… | |
[5] https://www.heise.de/tp/features/Verschleierter-Frauenmord-Das-unwerte-Lebe… | |
## AUTOREN | |
Peter Weissenburger | |
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