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# taz.de -- Demonstrationen für Demokratie im Iran: Protest ohne Netz
> Tausende demonstrieren im Iran gegen das Regime. Keiner weiß, wie es
> weitergeht. Auch, weil das Internet gedrosselt wird.
Bild: Aufgenommen in Teheran: Eines der wenigen aktuellen Fotos von den Protest…
Für Setareh ist der Protest zur Routine geworden. Morgens nach dem
Aufstehen checkt sie WhatsApp, Twitter, Telegram. Zu dieser Uhrzeit gibt es
Netz, sie kann sich informieren. Wie viele wurden letzte Nacht verhaftet,
wie viele getötet? Und: Wo wird an diesem Tag in Teheran demonstriert? Dann
schreibt sie ihren Freunden: Heute 18 Uhr, am Meydane Enghelab im Zentrum.
Denkt dran, dass später die U-Bahn nicht fährt. Nehmt euch vor den
Schlagstöcken in Acht.
Dann wartet Setareh darauf, dass das Regime das Internet drosselt.
Seit zehn Tagen ist der Iran in Aufruhr. Aus einem Protest gegen gestiegene
Lebensmittelpreise und hohe Arbeitslosigkeit im Nordosten des Landes ist in
nur wenigen Tagen ein landesweiter Aufstand geworden. Mindestens 21
Menschen sind dabei gestorben, wohl Tausende wurden bislang festgenommen.
Auch junge Leute, die jetzt gar nicht auf die Straße gegangen sind, die
sich aber in den vergangenen Monaten oder Jahren politisch engagiert
hatten. Allein in Teheran sollen mindestens 500 Menschen verhaftet worden
sein. Erinnerungen an die sogenannte Grüne Revolution von 2009 werden wach.
Aber die Proteste dieses Mal sind anders.
Sie begannen nicht in der Hauptstadt, sondern in der Provinz, wo die
Menschen konservativer sind. Aus mehr als 80 Städten wurden Aktionen
gemeldet. Die meisten der Demonstranten sind so jung, dass sie bei der
Grünen Revolution noch nicht aktiv dabei waren. Es sind eher
Unprivilegierte, die nun die Schnauze voll haben. Marxisten sind darunter,
die sich mit Theorien auf diesen Zeitpunkt vorbereitet haben. Und welche,
die sich spontan anschlossen. Einen Anführer haben sie nicht.
## Eine rote Linie
2009 waren Millionen Menschen auf der Straße, vor allem aus der
Mittelschicht. Es stand der mutmaßliche Wahlbetrug des damaligen
Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad im Vordergrund. „Wo ist unsere Stimme?“,
riefen die Demonstranten. Dann gewann das System wieder die Oberhand. Etwa
150 Menschen waren tot, Tausende im Gefängnis.
Die Leute jetzt sind wütend, wütend auf das Regime, das Geld in religiöse
Stätten und Kriege in der Region steckt anstatt in die Versorgung der
eigenen Bevölkerung. Tausende wollen das gesamte Mullah-Regime und mit ihm
Staatsoberhaupt Ali Chamenei wegschreien. „Nieder mit Chamenei, nieder mit
der Islamischen Republik“, forderten Iranerinnen und Iraner in den
vergangenen Tagen auf der Straße – eine rote Linie.
Auch Setareh übertritt diese nun regelmäßig. Sie ist 23 Jahre alt,
Studentin, und seit Sonntag kommt sie jeden Abend auf den Meydane Enghelab,
einen mehrspurigen Kreisverkehr. Sie läuft zu Fuß, gute 20 Minuten von
ihrem Zuhause, meist mit Freunden, am Mittwoch war auch ihre Mutter dabei.
Um diese Uhrzeit ist das Internet längst lahmgelegt, immer pünktlich zu
Protestbeginn.
Dort versuchen Polizisten, die vier Zufahrtsstraßen zu sperren. Ihnen
stehen Lehrerinnen, Händler, Handwerker gegenüber, mehrere hundert. Sie
rufen ihre Parolen, bis sie die Sicherheitskräfte mit Wasserwerfern,
Tränengas oder Schlagstöcken angreifen. Auch Setareh hätte schon fast einen
Schlag abbekommen. „Die werden von Tag zu Tag aggressiver“, sagt sie. Vier
ihrer Kommilitoninnen sitzen jetzt im Gefängnis.
## Messenger-Dienst Telegram blockiert
2009 riefen die Demonstranten noch „Allahu Akbar“ von den Dächern, so wie
ihre Eltern und Großeltern 30 Jahre zuvor, bei der Islamischen Revolution.
Gott ist am größten. Jetzt richten sich die Wut auch gegen den Islam, die
Staatsreligion. „Wir Frauen in Iran sind Gefangene der Religion“, sagt
Setareh.
Sie berichtet über verschlüsselte WhatsApp-Nachrichten – ein direktes
Telefonat ist ihr zu gefährlich, aus Sicherheitsgründen wurde ihr Name
geändert. Viele Demonstranten wollen überhaupt nicht reden, schon gar nicht
über digitale Kanäle. Die iranische Führung schließt nicht nur die U-Bahn
oder blockiert Straßen, um die Proteste zu unterbinden. Sie versucht auch,
Aktivisten im Netz aufzuspüren. Nach Ausbruch der Proteste wurde der Zugang
zur beliebtesten Messenger-App Telegram blockiert.
Präsident Hassan Rohani bringen die Proteste in die Bredouille. Er hat eine
Öffnung des Iran versprochen und wurde im Mai 2017 wiedergewählt. Aber
viele sind unzufrieden, dass nach dem Atomabkommen der erhoffte
wirtschaftliche Aufschwung ausblieb. Er hat Proteste jetzt sogar
grundsätzlich als legitim bezeichnet, weiß aber, dass es schwer ist,
Freiheitsrechte gegen den Willen des mächtigen Klerus durchzusetzen.
## Zensur als Wille Gottes
Seine als moderat geltende Regierung hatte bis vor den Protesten zumindest
dem Druck der Hardliner widerstanden, auch Telegram und Instagram zu
blockieren. Das Internet erreicht nun auch Dörfer, die vorher keines
hatten. Iran will also kein Nordkorea sein, das sich komplett abschottet.
Das Regime will aber das Internet so weit wie möglich kontrollieren,
[1][erklärt die Digitalexpertin und Menschenrechtsaktivistin Mahsa
Alimardani.]
Deshalb wird es dort auch „Filternet“ genannt. Viele Webseiten sind im Land
nicht zu erreichen, stattdessen wird eine Seite angezeigt, dass der Zugang
„im Namen Gottes“ nicht möglich sei. Zensur als Wille Gottes. Nach der
Grünen Revolution wurden nicht nur Facebook, sondern auch Twitter gesperrt,
das Netzwerk, über das damals die Proteste organisiert wurden. [2][Über den
Umweg eines VPN-Tunnels] sind die Seiten aber zu erreichen.
Telegram wurde aus mehreren Gründen wichtig: Die App funktioniert gut mit
der persischen Schrift, und praktisch jeder, der in Iran online ist, nutzt
sie regelmäßig, etwa 40 Millionen Menschen. Über sogenannte Kanäle
informieren sie sich über Aktuelles, können aber auch einfach mit
Verwandten chatten. Das Regime erhoffte sich, dass es den Dienst besser
kontrollieren kann als die US-Varianten. Es gibt Hinweise, dass die
Betreiber von Telegram, die ursprünglich aus Russland kommen,
vergleichsweise kooperativ sind, auch wenn diese das bestreiten. Laut
iranischem Kommunikationsministerium speichert Telegram inzwischen Daten
auf Servern in Iran.
## Teenager gegen Sicherheitskräfte
[3][Der Telegram-Kanal, mit dem sich die Demonstranten vor allem
informierten,] wurde vor einer Woche geschlossen: Amadnews mit rund 1,5
Millionen Followern. Er habe gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen, weil
in ihm zum Gebrauch von Molotow-Cocktails aufgerufen worden sei,
argumentierte Telegram-CEO Pawel Durow. Die Kanalbetreiber beteuern aus dem
Exil, dass sie nur berichten und niemanden aufwiegeln. Aber in ihrem neuem
Kanal posteten sie auch das Foto eines mutmaßlichen Basidsch-Milizionärs
mit der Aufforderung: Schlagt ihn, wenn ihr ihn seht! Die Basidsch mischen
sich gerne unter die Demonstranten, um zu sehen, wer von ihnen Parolen
gegen das Regime ruft und Fotos verschickt.
Mitte der Woche schlug das Regime zurück. Zehntausende wurden am Mittwoch
mobilisiert, um für die Regierung zu protestieren. Der Chef der
Revolutionsgarden erklärte den Aufstand für beendet. Aber danach sieht es
nicht aus. In mehreren Städten in Iran sind am Donnerstag wieder Menschen
auf die Straße gegangen, genaue Zahlen gibt es nicht. In Karadsch, einer
Zwei-Millionen-Stadt westlich von Teheran, hätten etwa hundert Leute
protestiert, berichtet eine Augenzeugin der taz. Darunter maskierte
Teenager, die „Nieder mit Chamenei“ gerufen hätten. Sie hätten einer
größeren Zahl an Sicherheitskräften gegenübergestanden, auch Mitgliedern
der paramilitärischen Revolutionsgarden.
Es ist schwer zu sagen, welches Ausmaß die Proteste noch haben. Wenige
ausländische Korrespondenten berichten aus Iran und können die Hauptstadt
nicht ohne Weiteres verlassen. Die iranischen Medien sind alle unter
staatlicher Kontrolle und sind deshalb keine zuverlässige Quelle. Aufgrund
der schlechten Internetverbindung ist es schwierig, Bilder oder Videos aus
den Provinzstädten zu veröffentlichen. Es wurde erwartet, dass nach dem
Freitagsgebet wieder Menschen protestieren. Zunächst gingen aber nur
Regimeanhänger auf die Straße.
Ob die Proteste gegen das Regime noch länger andauern werden und zu was sie
führen, weiß keiner. Setareh ist sich aber sicher, dass die Forderungen
nach mehr Demokratie nicht so schnell verstummen werden. „Auch wenn sie
unsere Stimmen erfolgreich zum Schweigen bringen, die Leute werden immer
wieder auf den Meydane Enghelab kommen“, sagt sie. Das ist der „Platz der
Revolution“ im Zentrum von Teheran. An dieser Stelle beginnt eine Straße
namens Azadi – Freiheit.
5 Jan 2018
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=MxSYiuIK-7Q
[2] /!5437962/
[3] /Telegram-Kanal-Betreiber-im-Iran/!5471844
## AUTOREN
Sebastian Erb
Ralf Pauli
## TAGS
Schwerpunkt Iran
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