# taz.de -- Sozialämter und Obdachlose: „Täglich Recht gebrochen“ | |
> Armutsforscherin Susanne Gerull spricht über den Umgang mit | |
> Wohnungslosen. Sie sagt: Der Staat verstößt gegen seine | |
> Unterbringungspflicht. | |
Bild: Notunterkunft für Obdachlose | |
taz: Frau Gerull, die Sozialämter fühlen sich in der Regel nicht zuständig | |
für Wohnungslose aus anderen EU-Ländern. Sie sehen das anders? | |
Susanne Gerull: Es passiert immer wieder, dass Sozialämter wohnungslose | |
Menschen wegschicken und sagen: „Wir haben gerade nichts, wir können euch | |
nicht unterbringen.“ Das gilt übrigens nicht nur für wohnungslose | |
EU-Bürger; diese sind nur in den Medien gerade sehr präsent. | |
Die Sozialämter dürften aber niemanden wegschicken? | |
Die Rechtslage ist klar: Wir haben in Deutschland – übrigens ziemlich | |
einmalig in Europa – eine Unterbringungspflicht des Staats. Wenn jemand | |
unfreiwillig wohnungslos ist und das erklärt, muss er oder sie am selben | |
Tag untergebracht werden. | |
In welchem Gesetz steht das? | |
Die Unterbringungspflicht ergibt sich aus den Ordnungsgesetzen der | |
Bundesländer, bei uns in Berlin dem Allgemeinen Sicherheits- und | |
Ordnungsgesetz (Asog). Und diese Rechtsnorm ist in keiner Weise | |
eingeschränkt, auch nicht auf Nationalität oder Aufenthaltsstatus. | |
Trotzdem wird das gerade bei Wohnungslosen aus anderen EU-Ländern anders | |
gehandhabt. | |
Die Unterbringungspflicht kollidiert natürlich damit, dass diese Menschen | |
in den meisten Fällen keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Und da | |
sagen die Sozialämter immer wieder: „Wir können euch in Notunterkünfte | |
schicken. Aber wenn die voll sind, dann können wir nichts tun, weil ihr | |
keinen Anspruch auf eine Erstattung der Kosten der Unterkunft habt.“ Das | |
ist eine falsche Logik und rechtswidrig. In den Sozialämtern wird täglich | |
Recht gebrochen, wenn wohnungslose Menschen – welcher Nationalität auch | |
immer – ohne Unterkunftsnachweis weggeschickt werden. | |
Was müssten die Sozialämter tun? | |
Es kollidieren wie gesagt zwei Rechtsnormen miteinander, und die | |
Sozialämter haben ein Abrechnungsproblem. Mir tun die Mitarbeiter da auch | |
leid, ich habe selbst 15 Jahre im Sozialamt gearbeitet. Aber wenn alle | |
Notunterkünfte voll sind, müssen sie eine andere Unterkunft finden. Im | |
Zweifelsfall, so hat es mein damaliger Amtsleiter immer formuliert, muss | |
das Sozialamt die Präsidentensuite im Adlon mieten, wenn alles andere | |
belegt ist. | |
Und wer zahlt das dann? | |
Na, trotzdem das Sozialamt. Aber eben nicht von dem Geld für Unterkunft. | |
Die Notunterkünfte, die ordnungsrechtlich zur Verfügung gestellt werden | |
müssen, werden ja auch aus einem anderen Topf bezahlt. | |
Theoretisch müssten abgewiesene Wohnungslose klagen. | |
Da gilt leider wie bei vielen Ansprüchen wohnungsloser Menschen unabhängig | |
von der Nationalität: Wo kein Kläger, da kein Richter. Das wissen die | |
Sozialämter auch. Es gibt aber entsprechende Fälle, in denen Menschen zur | |
Rechtsantragsstelle gegangen sind und eine einstweilige Anordnung auf | |
Unterbringung erwirkt haben. Natürlich ist das nur ein verschwindender | |
Bruchteil. Theoretisch sollten die Notunterkünfte entsprechend beraten. | |
Aber wie viele Angestellte müsste man haben, um mit jedem zur | |
Rechtsantragstelle zu gehen und das durchzusetzen?! | |
Und wie sieht die Lösung aus? | |
Man müsste die Politik stärker in die Verantwortung nehmen. Jetzt hat ja | |
gerade die linke Sozialsenatorin für eine erhebliche Erhöhung der Finanzen | |
im neuen Haushalt für die Wohnungslosenhilfe gesorgt und versprochen, mehr | |
Notunterkünfte zu schaffen. | |
In Notunterkünften wird tageweise untergebracht, häufig nur über Nacht. Das | |
ist doch keine Perspektive für wohnungslose Menschen. | |
Die Unterbringungspflicht bezieht sich erst einmal nur auf eine | |
Notsituation. Es muss dann geprüft werden, ob hier eine Bleibeperspektive | |
besteht und ob es nicht vielleicht am früheren Wohnort sogar noch eine | |
Wohnung gibt. | |
In Rumänien, Polen oder Bulgarien? Mit Verlaub, das ist doch unrealistisch. | |
Ja, das sind alles Probleme, die von den Ämtern allein nicht zu lösen sind. | |
Wir können hier in Berlin nicht die Probleme aller Wohnungslosen lösen. Die | |
Armutsmigration innerhalb der EU hat eine politische Dimension, die nicht | |
einmal von der Bundesrepublik allein bewältigt werden kann. Das geht nur | |
auf EU-Ebene. | |
Und was kann Berlin da tun? | |
Erst einmal kitten. Nachdem jahrelang trotz aller Warnungen eine kommende | |
Wohnungsnot geleugnet wurde, müssen jetzt erst einmal Notunterkünfte | |
geschaffen werden. | |
Schon ganz kleine Einrichtungen mit wenigen Zimmern haben es schwer, | |
bezahlbare Räume zu finden. Am Ende werden die jetzt im Haushalt | |
vorgesehenen zusätzlichen 6 Millionen Euro für die Wohnungslosenhilfe | |
tatsächlich für Hotelzimmer ausgegeben. | |
Das kann nicht der Sinn der Sache sein. Es geht jetzt zum Glück endlich | |
voran mit der Entwicklung einer gesamtstädtischen Strategie. Berlin hat da | |
jede Menge nachzuholen: etwa die Erstellung einer Wohnungslosen- und | |
Obdachlosenstatistik – wir wissen ja gar nicht, wer auf Berlins Straßen | |
lebt. Dann mauern die Gesundheitsbehörden immer bei der Unterbringung | |
psychiatrisch auffälliger Obdachloser und behaupten, da wäre die | |
Obdachlosenhilfe zuständig. Und die Jugendhilfe behauptet, für junge | |
Erwachsene ab 18 Jahren wäre sie nicht mehr zuständig – was so auch nicht | |
stimmt. Außerdem müssen wir mit der Bausenatorin darüber reden, woher wir | |
bezahlbare Wohnungen für Hartz-IV-Empfänger bekommen, wenn die auf dem | |
freien Wohnungsmarkt nichts mehr finden. Es müssen alle an einen Tisch, um | |
Lösungen zu finden. | |
Glauben Sie an grundlegende Veränderungen? | |
Ich bin verhalten optimistisch, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Aber | |
ich habe auch nur noch zehn Jahre bis zur Pensionierung und bin mir nicht | |
sicher, dass ich einen nachhaltigen Umgang mit drohender und akuter | |
Wohnungsnot in meiner aktiven Zeit noch erleben werde. | |
26 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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