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# taz.de -- Binnenmigration und Sklaverei in Nigeria: Die Mutter, die ihr Lache…
> Tausende Einwanderer suchen in Nigeria ihr Glück statt sich von
> Schleppern locken zu lassen. Innerafrikanische Migration ist selten
> Thema.
Bild: „Ob sie mir geglaubt hätten?“ Charity Wilfried vor ihrem Haus
Makurdi taz | Charity Wilfried hat einen starren, durchdringenden Blick.
Sie sitzt auf einer wackeligen Holzbank im Schatten eines großen Baumes.
Manchmal schaut sie zu ihrem kleinen Wohnhaus herüber. Es ist eins von
sechs Häusern, die gemeinsam ein kleines Gehöft bilden.
Ab und zu dringt der Lärm eines Autos herüber, das auf dem Weg nach Anyiin
ist, die nächste Kleinstadt, knapp zehn Kilometer entfernt. Dort ist immer
freitags Markttag. Vor allem lange, erdige Yamswurzeln liegen auf großen
Haufen zusammen.
Der Bundesstaat Benue im Osten Nigerias wirbt gerne mit dem Slogan,
„Brotkorb der Nation“ zu sein. Hier arbeitet ein großer Teil der
Bevölkerung in der Landwirtschaft oder baut zumindest neben seinem
eigentlichen Job Gemüse und Getreide an.
Auch die 23-jährige Charity Wilfried ist so aufgewachsen. Wirklich Geld hat
die Mitarbeit auf dem Feld der Eltern aber nicht eingebracht. Es war zu
klein und die Erträge zu niedrig.
Besonders schwierig wurde es, als der Vater vor ein paar Jahren starb. Als
dann auch noch ihr heute drei Jahre alter Sohn Daniel auf die Welt kam,
musste sie eine Entscheidung treffen. „Yoruba-Land“, sagt sie knapp und
zieht mit den Spitzen ihrer Flipflops ein paar Linien im hellbraunen Sand.
## Vom Osten in den Südwesten
Mit Yoruba-Land ist der Südwesten Nigerias gemeint, wo die Yoruba die
größte ethnische Gruppe bilden. Dort liegt Lagos, die größte Stadt Afrikas,
eine dynamische, weltoffene Metropole. Die Flächen, die landwirtschaftlich
bewirtschaftet werden, sind im Südwesten Nigerias um viele Hektar größer
als in Benue. Angebaut werden Ölpalmen und Kautschukbäume. „Yoruba-Land“ …
das klingt in ärmeren Teilen Nigerias nach Sehnsucht, Geld und Zukunft.
„Es hat jemanden gegeben, der mir dort Arbeit versprochen hat“, erinnert
sich Charity Wilfried in kurzen Sätzen. Über Details will sie nicht
sprechen. Sie sagt aber, dass die Person sogar das Geld für die rund 700
Kilometer lange Strecke bezahlt hat.
Arbeitsmigration vom Osten in den Südwesten gibt es innerhalb Nigerias seit
Jahrzehnten. Für Farmarbeiten werden besonders gerne Menschen angeworben,
die aus dem „Brotkorb der Nation“ stammen. Es heißt, sie würden schnell u…
zuverlässig arbeiten.
Was noch in den 1980er und 1990er Jahren als gute Möglichkeit galt, um in
relativ kurzer Zeit viel Geld zu verdienen und wohlhabend in die Heimat
zurückzukehren, hat sich für viele Betroffene zum Albtraum entwickelt. „Es
ist eine Form des inländischen Menschenhandels geworden“, sagt Valentine
Kwaghchimin, der in der Provinzhauptstadt Makurdi für das Caritas-Komitee
für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (JDPC) arbeitet und 2016
erstmals Daten dazu erhoben hat.
Denn der erhoffte Lohn für Arbeit in der Landwirtschaft bleibt in vielen
Fällen aus. Als Charity Wilfried im Südwesten ankam, wusste sie nicht
einmal genau, in welchem Dorf sie sich befand. Gemeinsam mit fünf anderen
Personen musste sie sich einen Raum teilen, auf dem Boden schlafen.
Sanitäranlagen gab es nicht.
## Der Gang zur Polizei war unmöglich
„Jeden Morgen haben sie mich um 5.30 Uhr geweckt. Kochen musste ich. Häufig
hatte ich bis zum Abend keine Pause. Wenn ich nicht schnell genug war,
haben die anderen Frauen mit mir geschimpft“, erzählt sie. Dann schweigt
sie und überlegt lange, ob sie über ihre größte Demütigung sprechen soll.
Irgendwann nickt sie fast unmerklich: „Sie haben gesagt, ich soll jemanden
heiraten. So einen jungen Mann. Das wollte ich auf gar keinen Fall.“
Die Vorstellung sei für sie noch schwerer zu ertragen gewesen als die
Vergewaltigungen, die es auch gab. „Eine der Frauen hat manchmal Männer
geholt. Es war zwecklos zu sagen, dass ich das nicht will.“ Charity
Wilfried versucht, so teilnahmslos wie möglich zu klingen, als ob das alles
einer dritten Person passiert sei.
Dabei ist die junge Mutter in ihrer Heimat. Sie hat ihr ganzes Leben in
Nigeria verbracht, hat nigerianische Papiere. Trotzdem war eine Flucht oder
der Gang zur Polizei unmöglich. Wie die übrigen auch durfte sie das Gelände
nur unter Aufsicht verlassen. Sie hatte weder Geld noch ein Handy. Niemand
hätte ihr sagen können, wo die nächste Polizeistation ist. „Und ob sie mir
da geglaubt hätten? Ich hatte doch noch nicht einmal einen Namen oder
Beweise.“ Sie zuckt mit den Schultern.
Der Caritas-Forscher Valentine Kwaghchimin nennt das alles „moderne
Sklaverei“. Er sagt: „Den Menschen werden Grundrechte genommen, und sie
haben keine Möglichkeit, das Gebäude, in dem sie untergebracht sind, oder
die Plantage zu verlassen.“ Er hat versucht, die Kleinbusse zu zählen, die
jede Woche aus Benue in Richtung Südwest aufbrechen. Schließlich ist alles
genau organisiert: vom Anwerben über Bekannte, über den Transport bis hin
zum Leben auf den Plantagen.
## Moderne Sklaven
Kwaghchimin geht davon aus, dass jährlich mindestens 11.000 Personen
Menschenhändlern zum Opfer fallen und zu modernen Sklaven werden.
Vermutlich liegt die Dunkelziffer weitaus höher.
Dabei gibt es Naptip, Nigerias staatliche Agentur gegen Menschenhandel. In
deren Fokus stehen jedoch Anwerber, die jungen Frauen aus dem Süden
Nigerias Ausbildungs- und Arbeitsplätze in Europa versprechen, sowie
Schlepperbanden, die die Opfer quer durch das Land nach Niger bringen, zur
Weiterfahrt Richtung Libyen und Mittelmeer.
Dieses System der organisierten Emigration besteht in Nigeria seit
Jahrzehnten. Doch seit 2015 hat die Migrationsdebatte in Europa den Druck
erhöht, [1][in den afrikanischen Herkunftsländern etwas zu tun, damit Opfer
und Täter Europa gar nicht erst erreichen]. Vor allem Nigeria, Afrikas
bevölkerungsreichstes Land, aus dem aktuell die größte Zahl der Migranten
kommt, muss demonstrieren, dass etwas unternommen wird.
Charity Wilfried und all die anderen, die nur innerhalb Nigerias unterwegs
sind, haben indes keine Lobby.
Im Naptip-Regionalbüro in Makurdi sitzt Daniel Atokolo hinter einem großen,
dunklen Schreibtisch. Aus seiner Schublade kramt er eine Postkarte, die er
wie ein Schiedsrichter hochhält. Damit soll dem Menschenhandel die rote
Karte gezeigt werden.
„Es ist nicht gut, was dort passiert“, sagt er über das Netzwerk zwischen
Benue und dem Südwesten. „Manche Opfer haben sich mit dem HI-Virus
infiziert und bringen ihn hierher. Wir sagen den Leuten deshalb: Wenn ihr
Landwirtschaft machen wollt, dann bleibt hier. Die Regierung versucht
gerade eine ganze Menge: Sie kauft euch zum Beispiel den Cassava, den ihr
anbaut, ab.“ Von einem solchen Programm hat Charity Wilfried noch nie
gehört. Auch von Naptip nicht.
Daniel Atokolo betont, seine Mitarbeiter seien ständig in den Dörfern
unterwegs und würden über das Phänomen „Yoruba-Land“ aufklären. Aber
Charity Wilfried ist letztendlich nur mit viel Glück zurück in ihr
Heimatdorf gekommen. „Eines Tages hatte der Mann, der uns beaufsichtigt
hat, Mitleid. Er hat mir das Geld für die Fahrt gegeben.“
Zurückgekehrt ist sie mit leeren Händen, mit dem Gefühl, versagt zu haben.
Und mit der Ungewissheit, wie sie jetzt die Schule für ihren Sohn Daniel
finanzieren soll.
Charity Wilfried hat den ganzen Vormittag über kein einziges Mal gelächelt.
1 Jan 2018
## LINKS
[1] https://migration-control.taz.de/#de
## AUTOREN
Katrin Gänsler
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Nigeria
Migration
Moderne Sklaverei
Uganda
Entwicklungshilfe
Libyen
Afrika
Niger
Schwerpunkt Demokratische Republik Kongo
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