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# taz.de -- Konflikt um Unabhängigkeit Kataloniens: Ein Meer aus Lichtern und …
> In Barcelona demonstrieren Hundertausende für die Freilassung
> inhaftierter Repräsentanten. Nicht alle sind Anhänger der Unabhängigkeit.
Bild: Das Leuchten der Mobiltelefone auf der Demo am Samstag in Barcelona
Barcelona taz | Irgendwie fühlt sich Carlos García fehl am Platz. Überall
diese katalanischen Fahnen und die Rufe nach Unabhängigkeit der
nordostspanischen Region. Nein, das ist nicht seine Welt. „Ich bin
Antinationalist und damit gegen jegliche Fahnen, die katalanischen ebenso
wie die spanischen“, erklärt er.
Warum er dennoch auf eine der größten Demonstrationen – laut Polizei sind
es 750.000 Teilnehmer – der Bewegung für ein unabhängiges Katalonien
gekommen ist? „Neugierde“, antwortet er, überlegt und fügt dann hinzu:
„Wenn überhaupt etwas meine Anwesenheit hier rechtfertigt, dann ist es der
Ruf nach Freiheit für die politischen Gefangenen.“
Der Aufmarsch im Herzen der katalanischen Hauptstadt ist nicht einfach
einer mehr für ein freies Katalonien. Es ist eine ganz besondere
Demonstration. Es geht um die Freilassung der acht inhaftierten Mitglieder
der abgesetzten katalanischen Regierung, die der Vorsitzenden der beiden
wichtigsten Unabhängigkeitsorganisationen, Jordi Sanchez von der
Katalanischen Nationalversammlung (ANC) und Jordi Cuixart des Kulturvereins
Òmnium, sowie um die Einstellung der Verfahren gegen die Mitglieder des
Parlamentspräsidiums und um die straffreie Rückkehr von weiteren fünf
Regierungsmitgliedern, die sich nach Belgien abgesetzt haben und dort auf
ihr Auslieferungsverfahren warten, unter ihnen der katalanische
Regierungschef Carles Puigdemont.
Allen drohen wegen der Durchführung des Unabhängigkeitsreferendums am 1.
Oktober und der Unabhängigkeitserklärung am 27. Oktober hohe Haftstrafen.
„Rebellion“, „Aufstand“ und „Veruntreuung öffentlicher Gelder“ lau…
wichtigsten Anklagepunkte.
## Langes Leben in Katalonien
„Es sind nicht die einzigen politischen Gefangenen in Spanien, auch wenn
die Unabhängigkeitsbewegung so tut“, nimmt García das Thema wieder auf. Da
seien die Basken, Gewerkschafter, die nach den letzten Generalstreiks
verurteilt wurden, „und natürlich auch diejenigen, die nach der Umzingelung
des Autonomieparlaments angeklagt wurden. Sie protestierten gegen die
Sparpolitik der Partei, der auch Puigdemont und ein Teil der Inhaftierten
angehören“, sagt García.
Der 64-Jährige stammt aus Asturien, hat aber seine halbes Leben in
Katalonien verbracht. Hilfsarbeiter, dann in der Industrie, im
Verlagswesen, freier Autor, unter anderem über die anarchistische Bewegung
im Katalonien der 1930er Jahre. Der hochgewachsene Mann aus Barcelona hat
viel gemacht in seinem Leben. García ist nicht alleine gekommen. Ihn
begleiten Non Cadefau (62), eine befreundete Ärztin aus einem kleinen Dorf
in den Pyrenäen, und Josep Deop (45), Organisationssekretär bei der
Gewerkschaft der Hafenarbeiter (OEPB) hier in Barcelona.
Unabhängigkeit? Josep Deop ist der einzige der drei, der damit wirklich
etwas anfangen kann. Anders als García und Cadefau folgt er jedem Aufruf
von ANC und Òmnium. Und es waren viele in den letzten Jahren. „Ich bin von
jeher für ein unabhängiges Katalonien“, erklärt Deop, der aus einer
einfachen Arbeiterfamilie in Hospitalet de Llobregat stammt. „Mein
Großvater kam von außerhalb. Er war sogar spanischer Polizist der Guardia
Civil“, sagt er.
Unter den Hafenarbeitern gehört Deop mit seinen politischen Ansichten zur
Minderheit. Denn „viele der Arbeiter stammen aus Einwandererfamilien aus
dem restlichen Spanien“. Dennoch waren die 1.000 Docker in den letzten
Wochen oft vorneweg. „Auch wenn die Unabhängigkeit als solche kein Thema
auf den wöchentlichen Vollversammlungen ist, die Repression ist es schon“,
sagt Deop. Die Hafenarbeiter beschlossen, die Hotelschiffe der nach
Katalonien entsandten Polizisten und Guardia Civil nicht zu bedienen, und
sie nahmen am Streik teil, mit dem die Unabhängigkeitsbewegung auf den
brutalen Polizeieinsatz beim Referendum am 1. Oktober reagierte.
## Roter Stern
„Über die Unabhängigkeit rede ich mit Carlos selten“, sagt Deop. Sie
schwelgen lieber in Erinnerungen, erzählen sich neue und alte Anekdoten aus
dem Hafen. Das verbindet, trotzt aller Meinungsverschiedenheiten. García
baute einst die Gewerkschaftszeitschrift für alle Häfen Spaniens auf. Deop
betreute sie anschließend. Es geht seit Jahren um dasselbe: um die Abwehr
der von Europa diktierten Liberalisierung der Branche.
Deop trägt ein gelbes Band am Revers. Es ist das Zeichen für die Forderung
nach Freiheit für die Inhaftierten. Eine Fahne um die Schulter, wie die
meisten sie hier tragen, kommt für ihn nicht infrage. Zu Hause am Balkon
habe er eine. Doch statt weißem Stern im blauen Dreieck habe die seine
einen roten Stern auf gelbem Grund. Es ist die der Linken unter den
Unabhängigkeitsbefürwortern.
Der Ruf nach Unabhängigkeit ist für Deop eine „klassenübergreifende
Bewegung“, um ein neues, gerechteres Katalonien aufzubauen. Für García ist
genau das „ein falscher Widerspruch“. „Was interessiert es mich, ob jemand
aus der gleichen Gegend kommt, die gleiche katalanische Sprache spricht wie
ich?“, fragt García. Für ihn ist und bleibt der Widerspruch der zwischen
Arbeit und Kapital. „Das ist meine Identität und sonst nichts. Auch wenn
ich jedem das Recht auf nationale Selbstbestimmung zugestehe, meine Sache
ist das nicht.“ An einen Neuanfang mit der katalanischen Bourgeoisie, genau
mit denen, die in den letzten Jahren mit der gleichen Härte die Sparpolitik
und neoliberale Reformen umgesetzt hätten wie die Zentralregierung in
Madrid, glaubt er nicht. García träumt vielmehr von einer Gesellschaft, die
sich von unten her kollektiv organisiert. Und mit Fahnen hätte das wenig zu
tun.
## Botschaft aus Belgien
Deop schweigt eine ganze Weile. Es sei richtig, dass sich viele aus den
Reihen des konservativen Nationalismus der Unabhängigkeitsbewegung
angeschlossen hätten, doch „das Sagen hat die Straße, die Bewegung von
unten“. „Wir wollen eine Republik der Menschen, einen Neuanfang bei null.“
Ob sie das jemals erreichen, da ist sich Deop trotz allen Eifers nicht mehr
so sicher. „Der spanische Staat hat die ganze Macht und nutzt sie“, sagt
er.
Mittlerweile ist es Nacht geworden. Die Demonstration ist weiter
angewachsen. Rund dreieinhalb Kilometer auf der Straße Carrer de la Marina,
von oberhalb der berühmten Kirche Sagrada Família bis fast hinunter ans
Meer füllen die Menschen. Es bewegt sich nichts mehr. Auf einem Podium auf
einem Platz verlesen Angehörige der Gefangenen Erklärungen, die per Anwalt
aus dem Gefängnis kamen. Die fünf in Brüssel haben Videos geschickt. „Keine
Gitter, kein Exil können uns entmutigen“, ruft Puigdemont, der bei den vom
spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy im Rahmen der Zwangsverwaltung
Kataloniens angesetzten Wahlen am 21. Dezember erneut kandidieren will.
„Presidente, Presidente!“, dankt es die Menge. Schließlich schalten alle
die Lampen ihrer Handys ein. Die Straße Marina verwandelt sich in eine
langes Lichtermeer.
Die drei sind wie viele andere längst auf der Suche nach einer Kneipe, um
noch schnell ein Bier zu trinken. Es ist Non Cadefau, die jetzt das Wort
ergreift. „Ich war nie zuvor auf einer Demonstration der
Unabhängigkeitsbewegung“, sagt sie. Beim Referendum am 1. Oktober sei sie
im Dorf „nur aus Neugierde“ zum Wahllokal gegangen. „Abstimmen wollte ich
eigentlich nicht.“ Doch als dann über Internet die ersten Videos der
brutalen Polizeieinsätze in Barcelona und anderen Städten kamen, „bin ich
doch hinein“. Wie sie gestimmt hat, habe sie nie jemandem erzählt.
## Nationalismus statt Klassenkampf
„Heute geht es um mehr“, begründet Cadefau dann ihre Teilnahme an der
Demonstration. „Madrid will uns nicht nur besiegen, sie wollen uns
Katalanen so richtig erniedrigen. Das können wir nicht zulassen“, sagt die
Ärztin im öffentlichen Gesundheitssystem, die sich „eigentlich nicht für
Politik interessiert“. Wenn Cadefau in den letzten Jahren überhaupt etwas
bewegt hat, dann sind es die Kürzungen und Privatisierungen im
Gesundheitswesen. „Katalonien hatte dabei eine traurige Vorreiterrolle“,
weiß die altgediente Ärztin.
Die Unabhängigkeitsbewegung hat all das vergessen gemacht. Die sozialen
Proteste, die noch 2011 die Straßen füllten, flauten ab. Der Slogan „Madrid
beraubt uns“ machte schnell die Verantwortung der katalanischen Regierung,
ebenjener Konservativen, aus deren Reihen auch Puigdemont stammt,
vergessen. „Ich will einen gerechtere Gesellschaft, ob das in einem freien
Katalonien ist oder in Spanien, ist mir egal“, sagt die Ärztin. García gibt
ihr recht. Deop hört zu und schweigt.
Cadefau ist die einzige „waschechte Katalanin“ der drei. Alle Vorfahren
stammen aus dem Tal um Puigcerdà in den Pyrenäen, an dessen Ende der
Grenzübergang nach Frankreich liegt. „Warum ich dennoch nicht so richtig an
die Unabhängigkeit glaube?“, setzt Cadefau erneut an. „Vielleicht, weil ich
so abgeschieden aufgewachsen bin, dass die Repression der Franco-Diktatur
gegen Sprache und Kultur anders als hier in der Stadt keine Rolle spielte“,
sagt sie. Die Frage nach der eigenen Identität lässt dieser Tage wohl
niemanden in Ruhe.
12 Nov 2017
## AUTOREN
Reiner Wandler
## TAGS
Katalonien
Barcelona
Spanien
Carles Puigdemont
Lesestück Recherche und Reportage
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