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# taz.de -- Die Wahrheit: Besetzte Insel
> Tagebuch einer Umbauerin: Der moderne Handwerker heißt Maik, trinkt
> Kräutertee und hört Deutschlandradio Kultur.
Als ich vor Jahren in New York lebte, beschlossen meine Nachbarn eines
Tages, ihre Wohnung umbauen zu lassen. Sie begannen im Frühjahr, die Kinder
waren noch im Kindergarten und gewöhnten sich daran, mit den Handwerkern zu
frühstücken. Zwei Jahre später war der Umbau immer noch nicht fertig. Die
Kinder betrachteten die Männer wie vertraute Familienmitglieder, man kannte
die gegenseitigen Vorlieben und feierte gemeinsam Geburtstage. Am Beispiel
der Familie beschrieb die New York Times einen typischen New Yorker
Wohnungsumbau. Selten gab es so viele bestätigende Zuschriften.
Zurzeit wird bei uns in Berlin renoviert. Seit Wochen leben wir, umstellt
von lebenslang angehäuftem Zeug, auf zwanzig Quadratmetern, der Rest
unserer Wohnung gehört den Handwerkern. Früher, als noch alles schlechter
war, konnte man froh sein, wenn die überhaupt kamen, kommuniziert wurde im
Brüllton, und um neun gab es das erste Frühstücksbier.
Heute geht das so: „Ick bin der Maik, und wie heißt du? Auf’m Bau duzen wir
uns ja alle.“ Maik mag kein Bier, sondern Kräutertee mit so viel Zucker,
dass man vor Folgeschäden warnt. „Nee, mach dir mal keene Sorgen, ick
brauch dit, weil ick fahr ja jed’n Tach fuffzich Kilometer Rad.“ Und nach
getaner Arbeit räumt der Mann auch noch gut gelaunt seinen Kram auf!
Währenddessen arbeitet nebenan, vertieft ins Selbstgespräch, der alte
Schwede. So heißt der Elektriker meines Vertrauens, seit er eine Weile
versonnen in das schwarze Loch hinter einer Verteilerdose starrte,
schließlich ein grollendes „alter Schwede“ ausstieß und das Loch
kommentarlos wieder verschloss. Danach überreichte er mir feierlich ein
stoff-ummanteltes, staubig-verfilztes Stück antikes Kabel, dessen Ableger
unter dem Zimmerdeckenputz weitermäandern und meine Lampen mit Strom
versorgen. Daran denke ich aber nur, wenn ich den Wunsch nach sehr heftigen
Albträumen verspüre, also eigentlich nie.
Über allem erklingt das Kulturprogramm von Deutschlandradio, mit dem der
feingeistige Maler seinen Arbeitstag bereichert. Wo man sich früher im
Krieg der Frequenzen behaupten musste – mein Kulturfunk gegen Schlagermucke
–, legen sich heute, sobald wir uns von unserer zugemüllten Wohninsel ins
Besatzerterritorium vorwagen, die Frequenzen so passgenau sanft aufeinander
wie ein Liebespaar im Bett.
Belagert von täglich sinnloser werdendem Hausrat und sich explosionsartig
vermehrenden Wollmäuserudeln vertreiben wir uns auf unserer Insel die Zeit
mit bangen Gedanken über das Leben nach dem Bau. Wie wird unsere Zukunft
aussehen ohne Maik und dem alten Schweden? Mit wem sollen wir den
interessanten Kulturradiobeitrag über den ersten veganen Transgender-Chor
in der Uckermark diskutieren? Sollten wir uns Rat bei den ehemaligen New
Yorker Nachbarn holen? Die Kinder müssten jetzt auf dem College sein, aber
wahrscheinlich bauen die immer noch.
9 Nov 2017
## AUTOREN
Pia Frankenberg
## TAGS
Handwerk
Sanierung
New York
Orientierung
Walter Benjamin
Berlin
Schwerpunkt Frankreich
Helmut Kohl
Gastronomie
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