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# taz.de -- Autor Helge Timmerberg übers Reisen: „Ich mag einfach Menschen“
> Der Schriftsteller und Journalist ist gerade zurück aus dem Himalaya. Nun
> geht er mit seinem neuen Buch „Die Straßen der Lebenden“ auf Tour.
Bild: Helge Timmerberg in St. Gallen, Schweiz
Er ist einen Kopf größer als die anderen und Helge Timmerberg hat einen
guten Kopf, der herausragt. Er ist auf den Bahnsteig in St. Gallen
gekommen, um mich abzuholen, es war 12.18 Uhr. Seine Haare sind
schulterlang, er trägt einen schwarzen Mantel, darunter Jeanshemd, an den
Füßen schwarze Turnschuhe mit einem weißen Swoosh. Ich gehe auf ihn zu,
aber er erkennt mich noch nicht, wir haben uns zuletzt vor mehr als
vierzehn Jahren gesehen.
Damals erschien gerade sein zweites Buch Schneekönig, die Geschichte des
Drogendealers Ronald Miehling, aufgeschrieben als Protokoll, ein glänzender
Text. Damals wohnte er noch in Berlin, ich besuchte ihn, ebenfalls für die
taz, und wir saßen einen Nachmittag lang in seiner Küche und der Autor
erzählte und erzählte, vom Schreiben und von seinen Abenteuern in der Welt
und dazu drehte er einen Joint. In der Zwischenzeit hat Helge Timmerberg
über ein Dutzend Bücher geschrieben und sie sind alle besonders, weil die
Texte darin stets ein bisschen mehr funkeln und leuchten als bei den
allermeisten anderen. Entsprechend berühmt ist er geworden.
Aus dem Journalisten, der einst bei der Lokalzeitung in Bielefeld anfing,
zum Stern wechselte und bei „Tempo“ endgültig frei wurde, ist ein
Bestsellerautor geworden. Er steht auf dem Bahnsteig und blinzelt noch
nicht ganz wach in die Sonne, die durch die Wolken gekommen ist. Besser
nach zwölf, hatte er geschrieben, vorher schlafe er. Aber jetzt hat er mich
erkannt. „An den Augen“. Meinen Bart und die langen Haare hatte er nicht
erwartet. „Moment, ich muss mein Hörgerät einschalten“, sagt Timmerberg,
der seit langem schlecht hört. Wir gehen durch die Fußgängerzone der
Kantonalstadt, 75000 Einwohner, zuerst zu Migros, einkaufen. Bananen,
Joghurt, Eier, Weißwein, Rotwein, Kerzen. Und dann das Dohlengässlein den
Berg hinauf. Es ist eine steile Stiege und wir schwitzen bald.
Timmerberg zeigt seinen silbernen Mercedes, ein Coupé, das er von seinem
Vater geerbt hat, und er führt hinauf zu der Villa aus Backstein, in der er
eine Einliegerwohnung zu seinem Schreibort gemacht hat. Sein Schreibtisch
füllt einen hellen Erker. In der Post ist sein neues Buch Die Straßen der
Lebenden, darin Texte aus Sarajevo, Rio, Rom, Indien und Sizilien. Nachdem
wir die Fotos erledigt haben, sitzen wir in der kleinen Küche, in der sich
das Geschirr türmt („schön chaotisch mag ich gern“). Timmerberg, der noch
nicht gefrühstückt hat, macht Spiegeleier. Zwei für mich, zwei für ihn,
dazu Butterbrote. Er ist noch nicht lange zurück aus dem Himalaya und er
war krank, eine Bronchitis. Aber es geht besser. Schließlich nehmen wir auf
seiner umglasten Veranda Platz, zwei Stühle, ein kleiner Bistrotisch.
Timmerberg streicht sich über die dunkelblaue Cordhose, nimmt eine Marlboro
aus dem Etui, das die Schockbilder überfunkelt, zündet sie sich an und
unser Gespräch beginnt.
taz.am wochenende: Herr Timmerberg, am Wahlsonntag mal kurz gedacht: Gut in
der Schweiz zu sein?
Helge Timmerberg: Ich habe das letzte Mal vor hundert Jahren gewählt, in
der Zeit, als ich die Grünen mitgegründet hatte. Danach war ich meist
unterwegs und ich hatte das Gefühl mit dieser einen Stimme habe ich, im
Gegensatz zu meiner Arbeit, keinen Einfluss.
Der Autor im Exil, das ist auch ein romantischer Gedanke?
Ich fühl mich nicht im Exil, dafür reise ich zu viel. Die ganze Welt war
mein Zuhause und die Schweiz hat sich komplett gedreht. Ich erinnere mich,
als ich hier vor einigen Jahren ankam und in den Zug stieg, saß mir ein
junger Soldat gegenüber, der sich völlig offen einen Joint baute. Als ich
dann das erste Mal zum Finanzamt ging, war mein Sachbearbeiter ein Typ mit
langen Haaren, der ein Poster mit dem kiffenden Bob Marley hinter sich
hängen hatte.
Ist das Schöne am wo anders sein, dass man Deutschland verdrängen kann?
Als ich jung war, habe ich Deutschland abgelehnt. Schützenfeste, Karneval,
Fußball, ich fand das alles zum Kotzen. Ich bin 1952 geboren, das waren nur
sieben Jahre nach Ende des Krieges. Meine Kindheit und meine Jugend fühlten
sich noch von den Nazis überschattet an. Auch mein Vater war
Nationalsozialist gewesen.
Wann ist Ihr Vater geboren?
1926. Der wurde 1942 als Soldat eingezogen und war als junger Mann total
infiltriert vom Dritten Reich, später wurde er dann ein aufrechter
SPD-Mann. Ich kam mal aus Japan zurück und lernte im Flugzeug einen Israeli
kennen. Timmerberg, ach du bist Jude, sagte der mir, in Tel Aviv gäbe es
Timmerbergs ohne Ende. Zuhause rief ich die Auslandsauskunft an und
tatsächlich, die hatten zwanzig. Als ich meinem Vater davon berichtete,
Papa, weißt du schon das Neuste, wir sind Juden, fiel die ganze
Resozialisierung von ihm ab. Der hat gebrüllt, wie kannst du das sagen, so
ein Scheiß. Das steckte tief in ihm drin.
Sie sind mit 17 nach Indien getrampt, weit weg von der deutschen
Spießigkeit.
Am Anfang waren meine Reisen eine Kulturflucht. Erst mit Mitte vierzig
merkte ich im Ausland, wie deutsch ich bin: Meine Pünktlichkeit. Dass ich
zu meinem Wort stehe, obwohl ich es zu schnell gebe. Meine Gründlichkeit,
bis ich einen Text gut genug finde, schreibe ich ihn dreimal neu.
Sie haben die Grüne Partei mitgegründet. Was hat Sie damals an Politik
fasziniert?
Ich war Hippie und eigentlich unpolitisch, aber in in den 1970er Jahren
wohnte ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von Braunschweig, zwei
Kilometer entfernt von der Asse, wo sie die erste Atommülldeponie
eingerichtet hatten. Die Beschwichtigungen der Atomindustrie regten mich
auf und so wurde ich sehr aktiv und gründete die grüne Liste Umweltschutz
mit, aus der dann die Grünen hervorgehen sollten. Wir hatten unsere
Sitzungen und ich konnte immer gut reden, das machte Spaß. Ich war
überzeugt, wir müssen die Umwelt, ja, die Welt, retten. In die Politik
einzugreifen, mit einer eigenen Partei, die vielleicht sogar das Kiffen
legalisieren will, das war stark. Und dass wir Erfolg hatten. Du machst
einen Fußballclub auf und gewinnst plötzlich.
Warum sind Sie nicht dabei geblieben?
Ich hatte die Asse-Geschichte dann für den Stern gemacht und das war für
mich der Sprung nach Hamburg. Als Journalist hatte ich mehr Einfluss,
konnte Meinung machen.
Aber Sie sind kein politischer Journalist geworden.
Ich habe damals viel über Leute aus der Bewegung geschrieben, Interviews,
Reportagen, das wurde mir aber nach einiger Zeit langweilig. Dann hat der
Kiez zugeschlagen, St. Pauli, Huren, Zuhälter, Straßengangs, dieses
Geschichten. Ich war immer auf Leben aus. Mein Trachten war immer mehr
Freiheit. Gegen die Macht und gegen die Mächtigen. Wer hat mir was zu sagen
und was soll das? Ich hab ja Biografien zerstört. Es gibt genug Leute, die
ein seriöses Leben vorhatten und durch mich aufs Reisen gekommen sind. Auch
das ist politisch.
Welcher gesellschaftliche Fortschritt in Ihrer Lebenszeit hat Sie am
meisten überrascht?
Wie spießig die 1960er Jahren noch waren, als nur Cappuccino ein Angriff
auf das Heimatland war. Wie offen, wie tolerant Berlin nach der
Jahrtausendwende war, du konntest alles machen, auf einmal tanzten die
Leute auf der Straße, komplett locker. Jetzt dreht sich das für mein
Empfinden wieder ins Unangenehme, in diesem Wahlkampf, aber auch schon die
Jahre zuvor, das Ausschließen, die Dogmen. Die Schweizer sind pragmatisch,
die Deutschen ideologisch. Damit hab ich Probleme, das ist so starr, so
funktioniert das Leben nicht. Früher habe ich mich als Anarchist
bezeichnet, das finde ich heute lächerlich. Keine Macht für niemand, wie
soll das gehen? Meine Abneigung gegen den Staat hat auch viel mit dem
Verbot meiner Lieblingsdroge zu tun. Mein ganze Leben lang wollte die
Polizei mir das Haschisch-Rauchen verbieten.
Die Legalisierung von Marihuana ist Ihr politisches Herzensprojekt?
Da würde ich wieder richtig einsteigen und aktiv werden. Das wäre meine Ehe
für alle.
Die Grünen müssen das in Jamaika durchsetzen?
Zeit wäre es, aber ich habe meine Zweifel. Das steht ewig im grünen
Programm und war nie das vorrangige Projekt.
Die Zahl der Befürworter in der Gesellschaft wächst aber.
Ja, das ist ein Hebel. Der andere ist, dass die Staaten in den USA, die
legalisiert haben, wahnsinnig viele Steuern einnehmen. Das ist wie aus
einem Feuerwehrschlauch Wasser zu trinken und der Staat braucht immer
Kohle. So viele Leute kiffen und haben damit kein Problem. Auch wird da, wo
legalisiert wurde, weniger gekifft. Wobei meine Mutter immer noch sagt,
Junge hör endlich mit dem Hasch auf. Sie hat in ihrer Zeit als Kellnerin
jahrelang Captagon geschluckt, das war aber keine Droge, das hat ihr der
Apotheker gegeben.
Die Grünen waren einmal eine Protestpartei, im Moment scheint es die AfD zu
sein, ist das einfach nur traurig?
In Brasilien bin ich auf eine Sorte Schweine gestoßen, die im Amazonas
leben, schwarz, mittelgroß, Raubtiergebiss. Die haben ein interessantes
soziologisches Verhalten, da gibt es in der Rotte immer ein Opferschwein,
das von den anderen vom Essen abgedrängt und gebissen wird. Ist es tot,
gibt es sofort ein neues Opferschwein und alle anderen verstehen sich
wieder okay. Manchmal kommt es mir so vor, als könnten Typen wie dieser
Gauland von der Rolle als Opferschwein profitieren. Konfuzius hat gesagt,
man kann das Böse nicht direkt bekämpfen, dadurch verstärkt es sich. Der
beste Weg ist der energische Fortschritt des Guten. Das hat mir immer
eingeleuchtet.
Sie sind zurück aus Nepal, warum waren sie dort?
Ich wollte Kashinath finden, jenen Wandermönch, der mir auf meiner ersten
Reise vor sechzehn Jahren das Mantra gegen die Angst gegeben hatte.
Sie erzählen von dieser Begegnung in Ihrer Autobiografie „ Die Rote
Olivetti“.
Der hatte mir damals das Leben gerettet. Ich fand, es war Zeit, dieses
Mantra zu erneuern. Leider habe ich Kashinath nicht finden können. Einer
sagte mir, er sei in Indien.
Aber die Reise hat sich dennoch gelohnt?
Ich glaube schon, aber das muss ich noch beim Schreiben herausfinden.
Sie sind jetzt 65 Jahre alt. Wie schafft man es, so lange Menschenfreund zu
bleiben?
Ich mag einfach Menschen. Wie kann man ohne Menschen zu lieben überhaupt
leben?
Man kann sich zurückziehen.
Menschen sind so lustig, so traurig. Wölfe lieben Wölfe. Menschen lieben
Menschen. Und ich habe viele positive Erfahrungen gemacht.
Kennen Sie die Angst vor dem Losfahren?
Oh ja, und die ist unheimlich. Das fing vor etwa zehn Jahren an, nachdem
ich oft genug die Erfahrung gemacht hatte, wie sich meine Hoffnungen in
eine Reise zerschlagen haben. Ich bin oft weg, weil ich mich gelangweilt
habe oder es ging um ein Problem, von dem ich dachte, es nur hier zu haben.
Plötzlich bist du auf der anderen Seite des Planeten und die Probleme sind
die selben wie zuhause, weil du sie ja in dir mitgenommen hast.
Der Kopf macht das Reisen beschwerlicher, der Körper auch?
Beides. Ich stecke schlaflose Nächte nicht mehr so leicht weg, ich werde
schneller krank. Das ist eine Frage des Alters und dazu kommt, dass ich so
spontan bin. Ich hielt das lange für gut, aber es kostet viel Energie. Ich
treffe eine Entscheidung nicht einmal, sondern zehnmal – und am Schluß
werfe ich doch eine Münze.
Hauptsache man entscheidet sich.
Und zieht es durch, egal, was das Ergebnis ist. Wenn du dich nicht
entscheiden kannst, bedeutet das auch, dass die Möglichkeiten für dich fast
gleichwertig sind. Aber ich bin oft im Krieg mit mir. Ich bin nicht ein
Ich, sondern mehrere, sieben vielleicht. Die kämpfen und ringen
miteinander, das ist eine ständige Zerrissenheit, in der ich lebe.
Ihre Konstante ist Schreiben?
Solange es nicht funkt, gibt es nichts schlimmeres als Schreiben. Aber
sobald die Trance da ist, sobald du merkst, die Ideen fließen, boah ist das
schön.
Muss man auf einer Reise die eigene Schüchternheit überwinden?
In Nepal ist es leicht, da sind die Menschen offenherzig und du kannst dir
aussuchen, auf wen du dich einlässt. Ein schönes Hotelzimmer, in das du
dich zurückziehen kannst, finde ich wichtig. Manchmal fühle ich mich
unterwegs so leer und so schwach, dann meditier ich und liege rum. Aber ich
kenne das auch, dass ich mich der Reise verweigere, weil ich schüchtern
bin.
Muss man deshalb gerade Risiken eingehen?
Mit 17 hab ich darüber nicht nachgedacht, da bin ich einfach über Land. Das
ist inzwischen anders. Ich wusste, wenn du jetzt zurück kommst, sind
Lesungen, also darfst du dir bitte keinen Fuß brechen. Dazu kommt, bevor
ich losfahre, kiffe ich, weil ich ja immer kiffe. Aber mit dem Kiffen
kommen auch die Ängste.
Hatten Sie nicht mal aufgehört?
Doch, ein halbes Jahr. Ich war leicht, ich hatte weniger Ängste, aber
scheiße geschrieben.
Also wieder angefangen?
Klar, das ist ja auch eine Sucht. Wenn ich dann am Morgen nüchtern losgehe,
denke ich, was war denn gestern Abend los, gaga oder was? Wenn du dich
auskennst und aufmerksam bist, weißt du ja, was wirklich gefährlich ist und
die meisten Situationen sind es nicht. In den letzten zwei Jahren war ich
allerdings meistens zusammen mit meiner Freundin unterwegs, das ist anders.
Sie beschreiben in „ Die Straßen der Lebenden“ , wie Sie beide betrunken
und streitend durch Palermo laufen und Sie Angst haben, dass Ihre Freundin
das Opfer sein könnte.
Das größte Risiko zu zweit ist, dass man sich zerfleischt und sich nicht
mehr sehen kann. Allein durch meine Körpergröße zögert jeder, ob es sich
lohnt, sich mit mir anzulegen. Er weiß ja nicht, dass ich nicht in Form
bin. Strahlst du Angst aus, bist du ein Opfer. Strahlst du
Selbstbewusstsein aus, bist du entweder ein Idiot oder kein Opfer. Da sind
die Chancen besser. Dazu murmle ich das Mantra gegen die Angst.
Richtig schreiben geht nur in der Nacht?
Entscheidend ist die Konzentration, der Flow, und der entsteht in der Nacht
leichter, weil es keine Unterbrechungen gibt.
Schreiben Sie unterwegs viel in Ihr Notizbuch?
Seit Jahren nicht mehr. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Sätze und für
Dialoge, wenn sie stark sind. Am Schreibtisch hilft mir das Kiffen, ich
höre Musik und dann kommt das. Da hab ich inzwischen Vertrauen.
Machen Sie Fotos?
Jetzt in Nepal ein bisschen mit dem Smartphone. Aber ich will ja Schreiben
und wenn ich nachher Fotos von den Szenen anschaue, stören mich die Bilder.
Schreiben Sie schon unterwegs?
Das MacBook Air nehme ich überall hin mit. Aber ob ich schreibe, hängt
stark davon ab, ob ich einen guten Arbeitsplatz finde, der mich anruft:
Helge!
Viele sagen, um zu schreiben muss man lesen.
Kann sein, aber ich komme gar nicht so viel dazu, weil ich selbst so viel
schreibe und das ist wichtiger. Aber ich habe gerade „Nina & Tom“ gelesen,
den Roman von Tom Kummer, gutes Buch.
Welches Ihrer eigenen Bücher ist Ihnen das liebste?
„Das Haus der sprechenden Tiere“.
Wie lange geht es ohne zu schreiben?
Es gibt eine Geschichte aus Japan, von einem Mann, dem auf dem Markt ein
kleines Teufelchen verkauft wird. Dessen Fähigkeit ist es, Dinge zu
erledigen. Aber du musst es jeden Tag beschäftigen, trägt der Händler dem
Mann noch auf. So macht er es und sein Leben verbessert sich nachdrücklich,
bis er eines Tages beim Saufen versackt. Als er am nächsten Morgen nach
Hause kommt, findet er das Teufelchen in der Küche, wie es das Nachbarskind
am Spieß brät. So ist das auch mit dem Schreiben, es muss regelmäßig
gemacht werden, sonst passieren schlimme Dinge.
Irgendwann ist es vorbei, auch ein Schriftsteller muss aufhören. Hat Sie
der radikale Weg von Hunter S. Thompson überrascht?
Ich war wirklich sauer. Hunter war ein Schreibgott für mich. Er war schon
ziemlich kaputt, als ich ihn traf, da war ich Mitte dreißig und er Mitte
fünfzig. Es gibt verschiedene Theorien für seinen Suizid. Eine
drogenbedingte Depression? Krebs? Ihm war es wichtig, wie uns allen, was
ist mit Liebe, was ist mit Sex, und ab einem gewissen Alter reduziert sich
die Potenz. Das geht in Schüben, das merk ich auch. Du bleibst jahrelang
auf einem Level und plötzlich stellst du fest, etwas hat sich verändert,
nur noch einmal die Woche.
Schub klingt brutal.
Ist es auch, es fehlt die Zeit dich seelisch mitzuentwickeln. 68 war
Hunter, das ist das Alter, wo langsam mal Sense ist. War es das?
War er mit seinem Schreiben in eine Falle geraten, weil die Leute immer
etwas Starkes von ihm erwartet haben?
Ihm war es wichtig, immer der beste Schreiber der Welt zu sein und er
musste immer der Verrückte sein, immer durchdrehen. Er glaubte, das wollten
seine Leser. Das Publikum will etwas von dir mitnehmen, die interessante
Bekanntschaft, den Typen, seine Kraft, seine Genialität. Das kenne ich
auch, das kann lästig werden. Aber Hunter war eigentlich recht gefühllos.
Sie sind in den vergangenen fünfzehn Jahren berühmt geworden. Übertreffen
die Vorteile die Nachteile?
Wenn ich auf der Straße angesprochen werde, bist du nicht, ich hab all
deine Bücher gelesen, hilft mir das mit selbst klarzukommen. Du bist doch
kein Penner! Passiert das am Bahnsteig und ich kann gleich in den Zug, kann
das toll sein. Schreiben ist eine Komprimierung, da kommen oben zwei Wochen
Kathmandu rein, mit viel Wasser und irgendwann ist unten ein Mokka fertig.
Die Leser aber kennen nur den Mokka, nicht mich mit meinem Wassertopf. Soll
ich denen jetzt zeigen, dass ich kein Held bin? Letztes Jahr hatte ich eine
Lesung, bei der mich auf einmal alle wie einen Guru angeschaut haben. Das
war ein Schock, ich bin keiner.
Sie waren schockiert, obwohl Sie sich als Journalist mit den Mechanismen
von Ruhm und Berühmtheit beschäftigt hatten?
Es ist eine andere Perspektive. Ich weiß noch, wie ich auf Hunter
zugegangen war, als wir uns das erste Mal trafen. Wie ich in der Kneipe
gewartet hatte, er kam rein und ich fing an zu stottern. Er ging sofort auf
meine Freundin ab und ich saß verkrampft auf meinem Stuhl. Jetzt erlebe ich
das manchmal umgekehrt. Die Medaille hat verschiedene Seiten. Die rein
praktische ist, du musst als Autor berühmt sein. Wenn du nicht beim Stern
angestellt sein willst. Als Künstler musst du bekannt sein, willst du davon
leben.
Was sind die Geborgenheiten Ihrer Kindheit?
Ich bin die ersten sieben Jahre bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine
Eltern haben beide viel gearbeitet. Meine Mutter war berufene Kellnerin,
musste sie auch sein, weil mein Vater Probleme hatte und nie da war, der
kam nur am Wochenende. Bei meinen Großeltern, das war komplett glücklich,
nur Liebe, kein böses Wort. Das Leben spielte sich in deren Wohnküche ab.
Meine Oma war an ihrem riesigen, gusseisernen Ofen. Da stand auch der
Fernseher, ihr Sessel und ein großer Tisch. Dahinter ein Sofa, auf dem ich
schlummerte, die Stimmen und Gerüche im Hintergrund.
Sie haben sich selbst als hochsensibel beschrieben. Was bedeutet das?
Die totale Empathie. Sehe ich, jemand ist traurig, spüre ich das sofort bei
mir. Ich kriege alles mit, Menschen, Mimik, Augen, Stimme, wie der eine mit
dem anderen ist. Für die Arbeit ist es hilfreich, aber trifft es auf meinen
Gemütszustand und der ist schwach, kann es sehr unangenehm sein. Ich habe
zu viel Mitgefühl.
Hatten Ihre Eltern diese Sensibilität auch?
Meine Mutter. Ihre Familie kam aus dem kleinen Dorfitter am Edersee und die
waren bekannt dafür. Bei meiner Mutter war das verhängnisvoll. Mein Vater,
der Fernfahrer war, kam mit dem LKW durch ihr Dorf. Er war ein Frauenheld,
er machte sie ein bisschen beschwipst, dann kam bald ich. Schon in der
Kirche weinte sie innerlich, weil sie an den Förster dachte, in den sie
eigentlich verliebt war. Aber sie hatte meinem Vater ihr Wort gegeben, da
konnte man nicht mehr nein sagen. Mein Vater war nicht sensibel. Der konnte
gut verhandeln. Was der wollte, wollte er. Der war gerade.
Das Robuste haben Sie aber auch, Sie haben beide Seiten?
Wenn ich stoned bin, kommt meine Mutter durch. Nüchtern bin ich näher bei
meinem Vater. Seitdem er 2013 gestorben ist, erwische ich mich oft, so wie
er zu sprechen, der Tonfall, die Art zu erzählen. Mein Vater konnte sehr
gut reden und Leute einwickeln. So hat er Karriere gemacht. Das mit dem
Lastwagen lief nicht mehr, er wurde Chauffeur beim Finanzamt, ist dann in
die Gewerkschaft eingetreten und wurde ein hoher Funktionär. Ich hatte ihn
ewig abgelehnt, Erzeuger. Er hatte sich nie groß um mich gekümmert.
Sie haben keine Geschwister?
Einen Halbbruder. Mein Vater hatte heimlich eine zweite Familie aufgemacht,
das kam nach zehn Jahren zufällig raus. Richtig getroffen habe ich meinen
Vater erst später in Marokko, da war ich um die vierzig. Das führte dazu,
dass ich ihn einmal im Jahr, bei ihm oben im Emsland, in Papenburg,
besuchte.
In ihrem neuen Buch beschreiben Sie, wie Sie in seinem Garten sitzen und
sich betrinken.
Erst am Schluß, die drei, vier Monate, bevor er starb, kümmerte ich mich um
ihn, zusammen mit meinem Halbbruder, der in Bremen lebt. Zuletzt war mein
Vater bei den Dementen auf der Pflegestation. Ich sehe ihn, wie er mit den
anderen an einem großen Tisch sitzt, das war furchtbar. Die waren verwirrt
und steckten ihre Servietten in die Suppe. Mein Vater trug so einem Kittel,
der hinten offen war. Er merkte, wo er da war und das hat ihn wütend
gemacht. Drei Monaten zuvor war er noch der King, mit dem Mercedes, und
plötzlich an so einem Tisch. Irgendwann musste man das Gitter an seinem
Bett hoch machen, er stieg ständig aus dem Bett, fing an zu urinieren und
fiel in seiner eigenen Pisse hin. Wie ein Säugling lag er da in seinem
Bettchen. Diesen kompletten Machtverlust zu sehen, hat mich fertig gemacht.
Ich war sechzig und ich sah mich selbst dort, in 25 Jahren.
Ihre Mutter lebt noch?
Sie ist jetzt 91 und sie verbringt ihren Tag im Fernsehsessel. Aber sie
liest noch viel, ihr ganzes Leben schon. Immer Krimis. Je grausamer, umso
besser. Dadurch ist sie im Kopf noch fit. Wie wird das mal bei mir sein?
Aber das ist Schicksal.
Ist nicht wichtiger, wie man zuvor gelebt hat? Das Sterben ist ja meist
eine vergleichsweise kurze Zeit.
Vielleicht war es für meinen Vater selbst nicht so schlimm. In Jahreszeiten
gedacht, wird für mich der Herbst langsam schon spät und bald kommt der
Winter. Das Sterben ist näher. Aber auch nicht so nah, können wir auch
gleich wieder vergessen.
7 Oct 2017
## AUTOREN
Henning Kober
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