# taz.de -- Autor Helge Timmerberg übers Reisen: „Ich mag einfach Menschen“ | |
> Der Schriftsteller und Journalist ist gerade zurück aus dem Himalaya. Nun | |
> geht er mit seinem neuen Buch „Die Straßen der Lebenden“ auf Tour. | |
Bild: Helge Timmerberg in St. Gallen, Schweiz | |
Er ist einen Kopf größer als die anderen und Helge Timmerberg hat einen | |
guten Kopf, der herausragt. Er ist auf den Bahnsteig in St. Gallen | |
gekommen, um mich abzuholen, es war 12.18 Uhr. Seine Haare sind | |
schulterlang, er trägt einen schwarzen Mantel, darunter Jeanshemd, an den | |
Füßen schwarze Turnschuhe mit einem weißen Swoosh. Ich gehe auf ihn zu, | |
aber er erkennt mich noch nicht, wir haben uns zuletzt vor mehr als | |
vierzehn Jahren gesehen. | |
Damals erschien gerade sein zweites Buch Schneekönig, die Geschichte des | |
Drogendealers Ronald Miehling, aufgeschrieben als Protokoll, ein glänzender | |
Text. Damals wohnte er noch in Berlin, ich besuchte ihn, ebenfalls für die | |
taz, und wir saßen einen Nachmittag lang in seiner Küche und der Autor | |
erzählte und erzählte, vom Schreiben und von seinen Abenteuern in der Welt | |
und dazu drehte er einen Joint. In der Zwischenzeit hat Helge Timmerberg | |
über ein Dutzend Bücher geschrieben und sie sind alle besonders, weil die | |
Texte darin stets ein bisschen mehr funkeln und leuchten als bei den | |
allermeisten anderen. Entsprechend berühmt ist er geworden. | |
Aus dem Journalisten, der einst bei der Lokalzeitung in Bielefeld anfing, | |
zum Stern wechselte und bei „Tempo“ endgültig frei wurde, ist ein | |
Bestsellerautor geworden. Er steht auf dem Bahnsteig und blinzelt noch | |
nicht ganz wach in die Sonne, die durch die Wolken gekommen ist. Besser | |
nach zwölf, hatte er geschrieben, vorher schlafe er. Aber jetzt hat er mich | |
erkannt. „An den Augen“. Meinen Bart und die langen Haare hatte er nicht | |
erwartet. „Moment, ich muss mein Hörgerät einschalten“, sagt Timmerberg, | |
der seit langem schlecht hört. Wir gehen durch die Fußgängerzone der | |
Kantonalstadt, 75000 Einwohner, zuerst zu Migros, einkaufen. Bananen, | |
Joghurt, Eier, Weißwein, Rotwein, Kerzen. Und dann das Dohlengässlein den | |
Berg hinauf. Es ist eine steile Stiege und wir schwitzen bald. | |
Timmerberg zeigt seinen silbernen Mercedes, ein Coupé, das er von seinem | |
Vater geerbt hat, und er führt hinauf zu der Villa aus Backstein, in der er | |
eine Einliegerwohnung zu seinem Schreibort gemacht hat. Sein Schreibtisch | |
füllt einen hellen Erker. In der Post ist sein neues Buch Die Straßen der | |
Lebenden, darin Texte aus Sarajevo, Rio, Rom, Indien und Sizilien. Nachdem | |
wir die Fotos erledigt haben, sitzen wir in der kleinen Küche, in der sich | |
das Geschirr türmt („schön chaotisch mag ich gern“). Timmerberg, der noch | |
nicht gefrühstückt hat, macht Spiegeleier. Zwei für mich, zwei für ihn, | |
dazu Butterbrote. Er ist noch nicht lange zurück aus dem Himalaya und er | |
war krank, eine Bronchitis. Aber es geht besser. Schließlich nehmen wir auf | |
seiner umglasten Veranda Platz, zwei Stühle, ein kleiner Bistrotisch. | |
Timmerberg streicht sich über die dunkelblaue Cordhose, nimmt eine Marlboro | |
aus dem Etui, das die Schockbilder überfunkelt, zündet sie sich an und | |
unser Gespräch beginnt. | |
taz.am wochenende: Herr Timmerberg, am Wahlsonntag mal kurz gedacht: Gut in | |
der Schweiz zu sein? | |
Helge Timmerberg: Ich habe das letzte Mal vor hundert Jahren gewählt, in | |
der Zeit, als ich die Grünen mitgegründet hatte. Danach war ich meist | |
unterwegs und ich hatte das Gefühl mit dieser einen Stimme habe ich, im | |
Gegensatz zu meiner Arbeit, keinen Einfluss. | |
Der Autor im Exil, das ist auch ein romantischer Gedanke? | |
Ich fühl mich nicht im Exil, dafür reise ich zu viel. Die ganze Welt war | |
mein Zuhause und die Schweiz hat sich komplett gedreht. Ich erinnere mich, | |
als ich hier vor einigen Jahren ankam und in den Zug stieg, saß mir ein | |
junger Soldat gegenüber, der sich völlig offen einen Joint baute. Als ich | |
dann das erste Mal zum Finanzamt ging, war mein Sachbearbeiter ein Typ mit | |
langen Haaren, der ein Poster mit dem kiffenden Bob Marley hinter sich | |
hängen hatte. | |
Ist das Schöne am wo anders sein, dass man Deutschland verdrängen kann? | |
Als ich jung war, habe ich Deutschland abgelehnt. Schützenfeste, Karneval, | |
Fußball, ich fand das alles zum Kotzen. Ich bin 1952 geboren, das waren nur | |
sieben Jahre nach Ende des Krieges. Meine Kindheit und meine Jugend fühlten | |
sich noch von den Nazis überschattet an. Auch mein Vater war | |
Nationalsozialist gewesen. | |
Wann ist Ihr Vater geboren? | |
1926. Der wurde 1942 als Soldat eingezogen und war als junger Mann total | |
infiltriert vom Dritten Reich, später wurde er dann ein aufrechter | |
SPD-Mann. Ich kam mal aus Japan zurück und lernte im Flugzeug einen Israeli | |
kennen. Timmerberg, ach du bist Jude, sagte der mir, in Tel Aviv gäbe es | |
Timmerbergs ohne Ende. Zuhause rief ich die Auslandsauskunft an und | |
tatsächlich, die hatten zwanzig. Als ich meinem Vater davon berichtete, | |
Papa, weißt du schon das Neuste, wir sind Juden, fiel die ganze | |
Resozialisierung von ihm ab. Der hat gebrüllt, wie kannst du das sagen, so | |
ein Scheiß. Das steckte tief in ihm drin. | |
Sie sind mit 17 nach Indien getrampt, weit weg von der deutschen | |
Spießigkeit. | |
Am Anfang waren meine Reisen eine Kulturflucht. Erst mit Mitte vierzig | |
merkte ich im Ausland, wie deutsch ich bin: Meine Pünktlichkeit. Dass ich | |
zu meinem Wort stehe, obwohl ich es zu schnell gebe. Meine Gründlichkeit, | |
bis ich einen Text gut genug finde, schreibe ich ihn dreimal neu. | |
Sie haben die Grüne Partei mitgegründet. Was hat Sie damals an Politik | |
fasziniert? | |
Ich war Hippie und eigentlich unpolitisch, aber in in den 1970er Jahren | |
wohnte ich in einem kleinen Dorf in der Nähe von Braunschweig, zwei | |
Kilometer entfernt von der Asse, wo sie die erste Atommülldeponie | |
eingerichtet hatten. Die Beschwichtigungen der Atomindustrie regten mich | |
auf und so wurde ich sehr aktiv und gründete die grüne Liste Umweltschutz | |
mit, aus der dann die Grünen hervorgehen sollten. Wir hatten unsere | |
Sitzungen und ich konnte immer gut reden, das machte Spaß. Ich war | |
überzeugt, wir müssen die Umwelt, ja, die Welt, retten. In die Politik | |
einzugreifen, mit einer eigenen Partei, die vielleicht sogar das Kiffen | |
legalisieren will, das war stark. Und dass wir Erfolg hatten. Du machst | |
einen Fußballclub auf und gewinnst plötzlich. | |
Warum sind Sie nicht dabei geblieben? | |
Ich hatte die Asse-Geschichte dann für den Stern gemacht und das war für | |
mich der Sprung nach Hamburg. Als Journalist hatte ich mehr Einfluss, | |
konnte Meinung machen. | |
Aber Sie sind kein politischer Journalist geworden. | |
Ich habe damals viel über Leute aus der Bewegung geschrieben, Interviews, | |
Reportagen, das wurde mir aber nach einiger Zeit langweilig. Dann hat der | |
Kiez zugeschlagen, St. Pauli, Huren, Zuhälter, Straßengangs, dieses | |
Geschichten. Ich war immer auf Leben aus. Mein Trachten war immer mehr | |
Freiheit. Gegen die Macht und gegen die Mächtigen. Wer hat mir was zu sagen | |
und was soll das? Ich hab ja Biografien zerstört. Es gibt genug Leute, die | |
ein seriöses Leben vorhatten und durch mich aufs Reisen gekommen sind. Auch | |
das ist politisch. | |
Welcher gesellschaftliche Fortschritt in Ihrer Lebenszeit hat Sie am | |
meisten überrascht? | |
Wie spießig die 1960er Jahren noch waren, als nur Cappuccino ein Angriff | |
auf das Heimatland war. Wie offen, wie tolerant Berlin nach der | |
Jahrtausendwende war, du konntest alles machen, auf einmal tanzten die | |
Leute auf der Straße, komplett locker. Jetzt dreht sich das für mein | |
Empfinden wieder ins Unangenehme, in diesem Wahlkampf, aber auch schon die | |
Jahre zuvor, das Ausschließen, die Dogmen. Die Schweizer sind pragmatisch, | |
die Deutschen ideologisch. Damit hab ich Probleme, das ist so starr, so | |
funktioniert das Leben nicht. Früher habe ich mich als Anarchist | |
bezeichnet, das finde ich heute lächerlich. Keine Macht für niemand, wie | |
soll das gehen? Meine Abneigung gegen den Staat hat auch viel mit dem | |
Verbot meiner Lieblingsdroge zu tun. Mein ganze Leben lang wollte die | |
Polizei mir das Haschisch-Rauchen verbieten. | |
Die Legalisierung von Marihuana ist Ihr politisches Herzensprojekt? | |
Da würde ich wieder richtig einsteigen und aktiv werden. Das wäre meine Ehe | |
für alle. | |
Die Grünen müssen das in Jamaika durchsetzen? | |
Zeit wäre es, aber ich habe meine Zweifel. Das steht ewig im grünen | |
Programm und war nie das vorrangige Projekt. | |
Die Zahl der Befürworter in der Gesellschaft wächst aber. | |
Ja, das ist ein Hebel. Der andere ist, dass die Staaten in den USA, die | |
legalisiert haben, wahnsinnig viele Steuern einnehmen. Das ist wie aus | |
einem Feuerwehrschlauch Wasser zu trinken und der Staat braucht immer | |
Kohle. So viele Leute kiffen und haben damit kein Problem. Auch wird da, wo | |
legalisiert wurde, weniger gekifft. Wobei meine Mutter immer noch sagt, | |
Junge hör endlich mit dem Hasch auf. Sie hat in ihrer Zeit als Kellnerin | |
jahrelang Captagon geschluckt, das war aber keine Droge, das hat ihr der | |
Apotheker gegeben. | |
Die Grünen waren einmal eine Protestpartei, im Moment scheint es die AfD zu | |
sein, ist das einfach nur traurig? | |
In Brasilien bin ich auf eine Sorte Schweine gestoßen, die im Amazonas | |
leben, schwarz, mittelgroß, Raubtiergebiss. Die haben ein interessantes | |
soziologisches Verhalten, da gibt es in der Rotte immer ein Opferschwein, | |
das von den anderen vom Essen abgedrängt und gebissen wird. Ist es tot, | |
gibt es sofort ein neues Opferschwein und alle anderen verstehen sich | |
wieder okay. Manchmal kommt es mir so vor, als könnten Typen wie dieser | |
Gauland von der Rolle als Opferschwein profitieren. Konfuzius hat gesagt, | |
man kann das Böse nicht direkt bekämpfen, dadurch verstärkt es sich. Der | |
beste Weg ist der energische Fortschritt des Guten. Das hat mir immer | |
eingeleuchtet. | |
Sie sind zurück aus Nepal, warum waren sie dort? | |
Ich wollte Kashinath finden, jenen Wandermönch, der mir auf meiner ersten | |
Reise vor sechzehn Jahren das Mantra gegen die Angst gegeben hatte. | |
Sie erzählen von dieser Begegnung in Ihrer Autobiografie „ Die Rote | |
Olivetti“. | |
Der hatte mir damals das Leben gerettet. Ich fand, es war Zeit, dieses | |
Mantra zu erneuern. Leider habe ich Kashinath nicht finden können. Einer | |
sagte mir, er sei in Indien. | |
Aber die Reise hat sich dennoch gelohnt? | |
Ich glaube schon, aber das muss ich noch beim Schreiben herausfinden. | |
Sie sind jetzt 65 Jahre alt. Wie schafft man es, so lange Menschenfreund zu | |
bleiben? | |
Ich mag einfach Menschen. Wie kann man ohne Menschen zu lieben überhaupt | |
leben? | |
Man kann sich zurückziehen. | |
Menschen sind so lustig, so traurig. Wölfe lieben Wölfe. Menschen lieben | |
Menschen. Und ich habe viele positive Erfahrungen gemacht. | |
Kennen Sie die Angst vor dem Losfahren? | |
Oh ja, und die ist unheimlich. Das fing vor etwa zehn Jahren an, nachdem | |
ich oft genug die Erfahrung gemacht hatte, wie sich meine Hoffnungen in | |
eine Reise zerschlagen haben. Ich bin oft weg, weil ich mich gelangweilt | |
habe oder es ging um ein Problem, von dem ich dachte, es nur hier zu haben. | |
Plötzlich bist du auf der anderen Seite des Planeten und die Probleme sind | |
die selben wie zuhause, weil du sie ja in dir mitgenommen hast. | |
Der Kopf macht das Reisen beschwerlicher, der Körper auch? | |
Beides. Ich stecke schlaflose Nächte nicht mehr so leicht weg, ich werde | |
schneller krank. Das ist eine Frage des Alters und dazu kommt, dass ich so | |
spontan bin. Ich hielt das lange für gut, aber es kostet viel Energie. Ich | |
treffe eine Entscheidung nicht einmal, sondern zehnmal – und am Schluß | |
werfe ich doch eine Münze. | |
Hauptsache man entscheidet sich. | |
Und zieht es durch, egal, was das Ergebnis ist. Wenn du dich nicht | |
entscheiden kannst, bedeutet das auch, dass die Möglichkeiten für dich fast | |
gleichwertig sind. Aber ich bin oft im Krieg mit mir. Ich bin nicht ein | |
Ich, sondern mehrere, sieben vielleicht. Die kämpfen und ringen | |
miteinander, das ist eine ständige Zerrissenheit, in der ich lebe. | |
Ihre Konstante ist Schreiben? | |
Solange es nicht funkt, gibt es nichts schlimmeres als Schreiben. Aber | |
sobald die Trance da ist, sobald du merkst, die Ideen fließen, boah ist das | |
schön. | |
Muss man auf einer Reise die eigene Schüchternheit überwinden? | |
In Nepal ist es leicht, da sind die Menschen offenherzig und du kannst dir | |
aussuchen, auf wen du dich einlässt. Ein schönes Hotelzimmer, in das du | |
dich zurückziehen kannst, finde ich wichtig. Manchmal fühle ich mich | |
unterwegs so leer und so schwach, dann meditier ich und liege rum. Aber ich | |
kenne das auch, dass ich mich der Reise verweigere, weil ich schüchtern | |
bin. | |
Muss man deshalb gerade Risiken eingehen? | |
Mit 17 hab ich darüber nicht nachgedacht, da bin ich einfach über Land. Das | |
ist inzwischen anders. Ich wusste, wenn du jetzt zurück kommst, sind | |
Lesungen, also darfst du dir bitte keinen Fuß brechen. Dazu kommt, bevor | |
ich losfahre, kiffe ich, weil ich ja immer kiffe. Aber mit dem Kiffen | |
kommen auch die Ängste. | |
Hatten Sie nicht mal aufgehört? | |
Doch, ein halbes Jahr. Ich war leicht, ich hatte weniger Ängste, aber | |
scheiße geschrieben. | |
Also wieder angefangen? | |
Klar, das ist ja auch eine Sucht. Wenn ich dann am Morgen nüchtern losgehe, | |
denke ich, was war denn gestern Abend los, gaga oder was? Wenn du dich | |
auskennst und aufmerksam bist, weißt du ja, was wirklich gefährlich ist und | |
die meisten Situationen sind es nicht. In den letzten zwei Jahren war ich | |
allerdings meistens zusammen mit meiner Freundin unterwegs, das ist anders. | |
Sie beschreiben in „ Die Straßen der Lebenden“ , wie Sie beide betrunken | |
und streitend durch Palermo laufen und Sie Angst haben, dass Ihre Freundin | |
das Opfer sein könnte. | |
Das größte Risiko zu zweit ist, dass man sich zerfleischt und sich nicht | |
mehr sehen kann. Allein durch meine Körpergröße zögert jeder, ob es sich | |
lohnt, sich mit mir anzulegen. Er weiß ja nicht, dass ich nicht in Form | |
bin. Strahlst du Angst aus, bist du ein Opfer. Strahlst du | |
Selbstbewusstsein aus, bist du entweder ein Idiot oder kein Opfer. Da sind | |
die Chancen besser. Dazu murmle ich das Mantra gegen die Angst. | |
Richtig schreiben geht nur in der Nacht? | |
Entscheidend ist die Konzentration, der Flow, und der entsteht in der Nacht | |
leichter, weil es keine Unterbrechungen gibt. | |
Schreiben Sie unterwegs viel in Ihr Notizbuch? | |
Seit Jahren nicht mehr. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Sätze und für | |
Dialoge, wenn sie stark sind. Am Schreibtisch hilft mir das Kiffen, ich | |
höre Musik und dann kommt das. Da hab ich inzwischen Vertrauen. | |
Machen Sie Fotos? | |
Jetzt in Nepal ein bisschen mit dem Smartphone. Aber ich will ja Schreiben | |
und wenn ich nachher Fotos von den Szenen anschaue, stören mich die Bilder. | |
Schreiben Sie schon unterwegs? | |
Das MacBook Air nehme ich überall hin mit. Aber ob ich schreibe, hängt | |
stark davon ab, ob ich einen guten Arbeitsplatz finde, der mich anruft: | |
Helge! | |
Viele sagen, um zu schreiben muss man lesen. | |
Kann sein, aber ich komme gar nicht so viel dazu, weil ich selbst so viel | |
schreibe und das ist wichtiger. Aber ich habe gerade „Nina & Tom“ gelesen, | |
den Roman von Tom Kummer, gutes Buch. | |
Welches Ihrer eigenen Bücher ist Ihnen das liebste? | |
„Das Haus der sprechenden Tiere“. | |
Wie lange geht es ohne zu schreiben? | |
Es gibt eine Geschichte aus Japan, von einem Mann, dem auf dem Markt ein | |
kleines Teufelchen verkauft wird. Dessen Fähigkeit ist es, Dinge zu | |
erledigen. Aber du musst es jeden Tag beschäftigen, trägt der Händler dem | |
Mann noch auf. So macht er es und sein Leben verbessert sich nachdrücklich, | |
bis er eines Tages beim Saufen versackt. Als er am nächsten Morgen nach | |
Hause kommt, findet er das Teufelchen in der Küche, wie es das Nachbarskind | |
am Spieß brät. So ist das auch mit dem Schreiben, es muss regelmäßig | |
gemacht werden, sonst passieren schlimme Dinge. | |
Irgendwann ist es vorbei, auch ein Schriftsteller muss aufhören. Hat Sie | |
der radikale Weg von Hunter S. Thompson überrascht? | |
Ich war wirklich sauer. Hunter war ein Schreibgott für mich. Er war schon | |
ziemlich kaputt, als ich ihn traf, da war ich Mitte dreißig und er Mitte | |
fünfzig. Es gibt verschiedene Theorien für seinen Suizid. Eine | |
drogenbedingte Depression? Krebs? Ihm war es wichtig, wie uns allen, was | |
ist mit Liebe, was ist mit Sex, und ab einem gewissen Alter reduziert sich | |
die Potenz. Das geht in Schüben, das merk ich auch. Du bleibst jahrelang | |
auf einem Level und plötzlich stellst du fest, etwas hat sich verändert, | |
nur noch einmal die Woche. | |
Schub klingt brutal. | |
Ist es auch, es fehlt die Zeit dich seelisch mitzuentwickeln. 68 war | |
Hunter, das ist das Alter, wo langsam mal Sense ist. War es das? | |
War er mit seinem Schreiben in eine Falle geraten, weil die Leute immer | |
etwas Starkes von ihm erwartet haben? | |
Ihm war es wichtig, immer der beste Schreiber der Welt zu sein und er | |
musste immer der Verrückte sein, immer durchdrehen. Er glaubte, das wollten | |
seine Leser. Das Publikum will etwas von dir mitnehmen, die interessante | |
Bekanntschaft, den Typen, seine Kraft, seine Genialität. Das kenne ich | |
auch, das kann lästig werden. Aber Hunter war eigentlich recht gefühllos. | |
Sie sind in den vergangenen fünfzehn Jahren berühmt geworden. Übertreffen | |
die Vorteile die Nachteile? | |
Wenn ich auf der Straße angesprochen werde, bist du nicht, ich hab all | |
deine Bücher gelesen, hilft mir das mit selbst klarzukommen. Du bist doch | |
kein Penner! Passiert das am Bahnsteig und ich kann gleich in den Zug, kann | |
das toll sein. Schreiben ist eine Komprimierung, da kommen oben zwei Wochen | |
Kathmandu rein, mit viel Wasser und irgendwann ist unten ein Mokka fertig. | |
Die Leser aber kennen nur den Mokka, nicht mich mit meinem Wassertopf. Soll | |
ich denen jetzt zeigen, dass ich kein Held bin? Letztes Jahr hatte ich eine | |
Lesung, bei der mich auf einmal alle wie einen Guru angeschaut haben. Das | |
war ein Schock, ich bin keiner. | |
Sie waren schockiert, obwohl Sie sich als Journalist mit den Mechanismen | |
von Ruhm und Berühmtheit beschäftigt hatten? | |
Es ist eine andere Perspektive. Ich weiß noch, wie ich auf Hunter | |
zugegangen war, als wir uns das erste Mal trafen. Wie ich in der Kneipe | |
gewartet hatte, er kam rein und ich fing an zu stottern. Er ging sofort auf | |
meine Freundin ab und ich saß verkrampft auf meinem Stuhl. Jetzt erlebe ich | |
das manchmal umgekehrt. Die Medaille hat verschiedene Seiten. Die rein | |
praktische ist, du musst als Autor berühmt sein. Wenn du nicht beim Stern | |
angestellt sein willst. Als Künstler musst du bekannt sein, willst du davon | |
leben. | |
Was sind die Geborgenheiten Ihrer Kindheit? | |
Ich bin die ersten sieben Jahre bei meinen Großeltern aufgewachsen. Meine | |
Eltern haben beide viel gearbeitet. Meine Mutter war berufene Kellnerin, | |
musste sie auch sein, weil mein Vater Probleme hatte und nie da war, der | |
kam nur am Wochenende. Bei meinen Großeltern, das war komplett glücklich, | |
nur Liebe, kein böses Wort. Das Leben spielte sich in deren Wohnküche ab. | |
Meine Oma war an ihrem riesigen, gusseisernen Ofen. Da stand auch der | |
Fernseher, ihr Sessel und ein großer Tisch. Dahinter ein Sofa, auf dem ich | |
schlummerte, die Stimmen und Gerüche im Hintergrund. | |
Sie haben sich selbst als hochsensibel beschrieben. Was bedeutet das? | |
Die totale Empathie. Sehe ich, jemand ist traurig, spüre ich das sofort bei | |
mir. Ich kriege alles mit, Menschen, Mimik, Augen, Stimme, wie der eine mit | |
dem anderen ist. Für die Arbeit ist es hilfreich, aber trifft es auf meinen | |
Gemütszustand und der ist schwach, kann es sehr unangenehm sein. Ich habe | |
zu viel Mitgefühl. | |
Hatten Ihre Eltern diese Sensibilität auch? | |
Meine Mutter. Ihre Familie kam aus dem kleinen Dorfitter am Edersee und die | |
waren bekannt dafür. Bei meiner Mutter war das verhängnisvoll. Mein Vater, | |
der Fernfahrer war, kam mit dem LKW durch ihr Dorf. Er war ein Frauenheld, | |
er machte sie ein bisschen beschwipst, dann kam bald ich. Schon in der | |
Kirche weinte sie innerlich, weil sie an den Förster dachte, in den sie | |
eigentlich verliebt war. Aber sie hatte meinem Vater ihr Wort gegeben, da | |
konnte man nicht mehr nein sagen. Mein Vater war nicht sensibel. Der konnte | |
gut verhandeln. Was der wollte, wollte er. Der war gerade. | |
Das Robuste haben Sie aber auch, Sie haben beide Seiten? | |
Wenn ich stoned bin, kommt meine Mutter durch. Nüchtern bin ich näher bei | |
meinem Vater. Seitdem er 2013 gestorben ist, erwische ich mich oft, so wie | |
er zu sprechen, der Tonfall, die Art zu erzählen. Mein Vater konnte sehr | |
gut reden und Leute einwickeln. So hat er Karriere gemacht. Das mit dem | |
Lastwagen lief nicht mehr, er wurde Chauffeur beim Finanzamt, ist dann in | |
die Gewerkschaft eingetreten und wurde ein hoher Funktionär. Ich hatte ihn | |
ewig abgelehnt, Erzeuger. Er hatte sich nie groß um mich gekümmert. | |
Sie haben keine Geschwister? | |
Einen Halbbruder. Mein Vater hatte heimlich eine zweite Familie aufgemacht, | |
das kam nach zehn Jahren zufällig raus. Richtig getroffen habe ich meinen | |
Vater erst später in Marokko, da war ich um die vierzig. Das führte dazu, | |
dass ich ihn einmal im Jahr, bei ihm oben im Emsland, in Papenburg, | |
besuchte. | |
In ihrem neuen Buch beschreiben Sie, wie Sie in seinem Garten sitzen und | |
sich betrinken. | |
Erst am Schluß, die drei, vier Monate, bevor er starb, kümmerte ich mich um | |
ihn, zusammen mit meinem Halbbruder, der in Bremen lebt. Zuletzt war mein | |
Vater bei den Dementen auf der Pflegestation. Ich sehe ihn, wie er mit den | |
anderen an einem großen Tisch sitzt, das war furchtbar. Die waren verwirrt | |
und steckten ihre Servietten in die Suppe. Mein Vater trug so einem Kittel, | |
der hinten offen war. Er merkte, wo er da war und das hat ihn wütend | |
gemacht. Drei Monaten zuvor war er noch der King, mit dem Mercedes, und | |
plötzlich an so einem Tisch. Irgendwann musste man das Gitter an seinem | |
Bett hoch machen, er stieg ständig aus dem Bett, fing an zu urinieren und | |
fiel in seiner eigenen Pisse hin. Wie ein Säugling lag er da in seinem | |
Bettchen. Diesen kompletten Machtverlust zu sehen, hat mich fertig gemacht. | |
Ich war sechzig und ich sah mich selbst dort, in 25 Jahren. | |
Ihre Mutter lebt noch? | |
Sie ist jetzt 91 und sie verbringt ihren Tag im Fernsehsessel. Aber sie | |
liest noch viel, ihr ganzes Leben schon. Immer Krimis. Je grausamer, umso | |
besser. Dadurch ist sie im Kopf noch fit. Wie wird das mal bei mir sein? | |
Aber das ist Schicksal. | |
Ist nicht wichtiger, wie man zuvor gelebt hat? Das Sterben ist ja meist | |
eine vergleichsweise kurze Zeit. | |
Vielleicht war es für meinen Vater selbst nicht so schlimm. In Jahreszeiten | |
gedacht, wird für mich der Herbst langsam schon spät und bald kommt der | |
Winter. Das Sterben ist näher. Aber auch nicht so nah, können wir auch | |
gleich wieder vergessen. | |
7 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Henning Kober | |
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