# taz.de -- Nachruf auf Tom Wolfe: Vanillefarben im Schmutz | |
> Von aberwitzig galoppierenden Stücken zum Sinkflug, der seinem ersten | |
> echten Roman folgte: Tom Wolfe war „der beste schlechte Journalist aller | |
> Zeiten“. | |
Bild: Tom Wolfe war als Journalist nah dran, ohne sich gemein zu machen | |
Zwischen 2 oder 3 Uhr in der Nacht, irgendwann um diese Zeit, in einem | |
Krankenhaus in New York, am 15. Mai 2018, seinem Todestag, um genau zu | |
sein, da erwachte Thomas Kennerly Wolfe Jr. in der Dunkelheit in einem | |
Zustand wilden Schreckens. Das war ihm schon vorher passiert. Es war nur | |
eine der Formen, die seine Schlaflosigkeit annahm. Also tat er das Übliche. | |
Er stand auf und lief ein wenig herum. Er fühlte sich schwach auf den | |
Beinen. Und plötzlich hatte er, aaaaaaaaaaaaah, eine Vision, eine | |
Inspiration. | |
Er war schon ein schlechter Student gewesen. Seine Doktorarbeit in Yale, | |
über die kommunistischen Aktivitäten amerikanischer Schriftsteller zwischen | |
1929 und 1942, wurde zunächst abgelehnt. Trotz – oder wegen – zahlloser | |
Interviews, die er dafür geführt hatte, war ihm der Text zu subjektiv | |
geraten. Angenommen wurde die Arbeit erst, nachdem er sie gewissermaßen | |
objektiviert – und verlangweiligt hatte. | |
Da war er, geboren 1930 in Richmond, Virginia, bereits als professioneller | |
Baseballspieler gescheitert und in seinen Mittzwanzigern. Wenn nicht Sport, | |
dann Journalismus. Denn das Schreiben lag ihm noch mehr als das Werfen | |
harter Bälle. Es lag ihm, seit er als kleiner Junge eine Biografie von | |
Napoleon Bonaparte in die Hände bekommen hatte, von Emil Ludwig, | |
geschrieben anders als alle anderen historischen Bücher zuvor: „Eine junge | |
Frau sitzt in einem Zelt. In einen Umhang gehüllt stillt sie ihr Baby und | |
lauscht einem fernen Rumpeln und Brüllen“. | |
Das ist er. Der Satz, der aus Tom Wolfe einen Schreiber gemacht hat. Große | |
Geschichte. Nicht nur im Präsens erzählt, hart am Leben entlang. Sondern | |
imaginiert und herbeifabuliert, wie es denn gewesen sein könnte, wie es | |
gewesen sein muss, als Napoleon noch ein Kleinkind an der Brust der Mutter | |
war, mit dem Kommenden als Theaterdonner aus den Kulissen: „Das hat mich so | |
beeindruckt, dass ich selbst eine Biografie von Napoleon zu schreiben | |
begann“, erzählte er später: „Natürlich schrieb ich viel bei Emil Ludwig | |
ab. Ich war zu dieser Zeit acht Jahre alt“. | |
## Direkt zu Fidel Castro | |
Seine erste Anstellung als Reporter hatte er bei der Washington Post, und | |
die schickte ihn sogleich als Korrespondent nach Kuba, wo soeben Fidel | |
Castro die Macht übernommen hatte. Schon hier kam er mit seinem Anspruch an | |
lebendiges Schreiben ins Gehege mit den Geboten eines seriösen | |
Journalismus, wie er sich erinnerte: „Immer, wenn ich über Adern zu | |
schreiben versuchte, die auf der Stirn des kubanischen Revolutionsführers | |
aufpoppten, wurde mir das abgeschlagen. Alles, was sie wollten, war: | |
Verteidgungsminister Raúl Castro sagte gestern, dass …“ | |
Preise für seinen Stil bekam er dennoch, wechselte zur New York Herald | |
Tribune und schrieb für dessen Beilage, wo das Wilde gewünscht war. Kein | |
„Ken, 26, blickt müde aus dem Fenster …“, sondern wilde Collagen aus | |
inneren Monologen, langen Dialogen, Perspektivwechseln, fiktiven | |
Ausschmückungen und sehr genauen Beobachtungen örtlicher Soziolekte sowie | |
winzigster Details. In diesem literarischen Stil setzte er 1968, zur | |
rechten Zeit also, dem in einem Bus durch die USA tourenden und LSD | |
verteilenden Kollegen Ken Kesey, den Hippies generell und auch sich selbst | |
ein Denkmal. „The Electric Kool-Aid Acid Test“, eigentlich eine | |
Reportagereihe, gilt noch heute als Wolfes stärkstes Buch. | |
Statt sich in falscher Anverwandlung in Batik zu hüllen, distanzierte sich | |
Wolfe damals schon mit feinem Zwirn, vanillefarben obendrein. Einer, der da | |
hingeht, wo es dreckig ist – sich dabei aber nicht schmutzig macht. Ein | |
Markenzeichen. Und schon 1970 versammelte er Texte ähnlich arbeitender | |
Kolleginnen und Kollegenn wie Joan Didion, Truman Capote, Norman Mailer | |
oder Hunter S. Thompson in einem Reader, um dem Stil einen Namen zu geben: | |
„New Journalism“. | |
In aberwitzig galoppiernden, unter Ausrufezeichen und Gedankenstrichen und | |
Lautmalereien nur so ächzenden Stücken für Magazine von Esquire bis zum | |
Rolling Stone begleitete er die Dekade des „Ich!“, als die er die | |
Siebzigerjahre empfand, schrieb über den Musikproduzenten Phil Spector | |
oder, ohne dabei gewesen zu sein, in „Radical Chic“ über Leonard Bernstein, | |
wie ihm die nächtliche Idee kam, Werbung für die Black Panthers zu machen: | |
„At 2 or 3 or 4 a.m., somewhere along in there, on August 25, 1966, his | |
48th birthday, in fact, Leonard Bernstein woke up in the dark …“ | |
## Versehentlich zum rechten Zeitpunkt gezündet | |
Er schrieb über das Silicon Valley, als dort noch die Palmen standen („The | |
Tinkerings Of Robert Noyce“), und die Psyche von Astronauten („Der Stoff, | |
aus dem die Helden sind“). Aus einer überbordenden Reportagereihe über | |
Banker und Immobilienhaie in Manhattan wurde eher versehentlich „Fegefeuer | |
der Eitelkeiten“ – erschienen wieder zur rechten Zeit, dem Börsencrash von | |
1987. | |
Mit diesem ersten echten Roman, seinem größten Erfolg, begann auch Wolfes | |
unmerklicher Sinkflug. Nun wollte er nicht mehr Journalist, nun wollte er | |
Flaubert oder Balzac sein. Mit den Mitteln des romanhaften Realismus', im | |
Kern konservativ wie er selbst es mit zunehmendem Alter wurde, konnte Wolfe | |
den zentrifugalen Realitäten der USA literarisch nicht mehr beikommen. | |
Nicht den Spekulanten („Ein ganzer Kerl“), nicht dem Bildungssystem („Ich | |
bin Charlotte Simmons“), nicht der Einwanderungsgesellschaft („Back to | |
Blood“). Was in ihm als akribiler Erzähler großer Panoramen noch brannte, | |
das übernahmen bald Nachfolger wie Bret Easton Ellis, Jonathan Franzen oder | |
Michael Chabon als Fackel. | |
Er sah sich vor sein Publikum treten, mit einem weißen Borsalino auf dem | |
Kopf und in einem seiner niemals weißen, nein!, vanillefarbigen | |
Zweireihern, mit einem zu Hemd und Krawatte passenden, blauen Einstecktuch, | |
Two-Tone-Schuhen, wie Al Capone sie schon getragen hatte, und seinem grauen | |
Wollmantel mit nur einem einzigen Knopf, unpraktisch, ja, aber für die | |
Eleganz muss man Opfer bringen, und er hörte sich sagen, laut und mit einem | |
ganz feinen, kaum erkennbaren Lächeln: „Ich war’n schlechter Journalist. | |
Der beste schlechte Journalist aller Zeiten. Habt ihr nich‘ gemerkt, was?“ | |
16 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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