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# taz.de -- Bilanz der G20-Prozesse in Hamburg: G20-Gipfel vor Gericht
> Nach den ersten Prozessen gegen Gipfelgegner: Wie die Justiz die
> Angeklagten einschüchtert – und wie sich die Verteidigung verändert.
Bild: Steine für die Polizei: Demonstranten gegen Polizisten beim G20-Gipfel a…
Hamburg taz | Als die Öffentlichkeit schon fast das Interesse verloren hat,
wird es plötzlich interessant. Es ist der 12. G20-Prozess am Hamburger
Amtsgericht und die Verteidiger setzen auf Konfrontation.
Sie fordern einen Freispruch für ihren Mandanten, der eine Flasche auf
einen Polizisten geworfen haben soll, stellen Anträge, beklagen, dass ihnen
Akten vorenthalten worden seien und werfen der Richterin Befangenheit vor.
Ein Urteil fällt an diesem Tag nicht, der Prozess wird vertagt. Aber es ist
das erste Mal seit dem ersten G20-Prozess am 28. August, dass ein
Angeklagter nicht vor dem Gericht um Entschuldigung bittet, ein Geständnis
ablegt, Reue zeigt und Besserung gelobt.
Mit dem ersten, dem drakonischsten Urteil der G20-Prozesse hat der als
Hardliner bekannte Amtsrichter Johann Krieten den Maßstab hoch gesetzt. Zu
2 Jahren und 7 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilte er Peike S., einen
21-jährigen Niederländer ohne Vorstrafen. S. soll zwei Flaschen auf
Polizist*innen geworfen haben. Als der Richter das Urteil verkündet, guckt
S. sich erschrocken zu seinen ebenso überraschten Freund*innen und
Unterstützer*innen im Gerichtssaal um. Mit so einem Urteil hatte niemand
gerechnet.
In den folgenden Prozessen gesteht jeder Angeklagte gleich zu Beginn. „Es
war ein Fehler“, sagen viele, „ich dachte nicht, dass sich die Situation so
entwickeln würde“, sagen andere, „ich bereue es“. Einer sagt: „Ich wä…
sehr dankbar, wenn ich zurück zu meiner Arbeit und meiner Familie kann –
das ist mir das Wichtigste.“ Sie alle kommen mit Bewährungsstrafen davon.
Manche Jurist*innen vermuten eine Strategie dahinter: In fast allen Fällen,
die zur Anklage kamen, sind die Beschuldigten Ausländer. Gegen sie lässt
sich die Untersuchungshaft leicht verhängen: Mit „Fluchtgefahr“ begründen
die Haftrichter den vorsorglichen Freiheitsentzug. Bei Deutschen geht das
nicht so leicht.
Nach drei Monaten in U-Haft wollen die Anfang bis Ende Zwanzigjährigen nur
eins: raus aus der U-Haft, raus aus Deutschland. Aber jeder
Befangenheitsantrag, jedes Hinzuziehen weiterer Zeug*innen, jede weitere
Akteneinsicht verzögert den Prozess. Bei der Terminlage des Gerichts
bedeutet das für die Angeklagten mindestens ein paar weitere Wochen in
Haft.
So legen die Beschuldigten der G20-Prozesse Geständnisse ab, zeigen Reue,
kriechen zu Kreuze. „Es drängt sich der Eindruck auf, dass die
Untersuchungshaft auch genutzt wird, um schnellere Geständnisse zu
erhalten“, sagt die Anwältin Britta Eder. Die hohen Haftstrafen nehmen die
Verurteilten widerspruchslos in Kauf, solange sie zur Bewährung ausgesetzt
werden. Eine Bewährungsstrafe in Deutschland bedeutet nicht viel, wenn man
in Italien lebt.
Auch der Verteidiger Jonathan Burmeister sagt über den Prozess gegen seinen
Mandanten: „Die Untersuchungshaft ist der eigentliche Skandal.“ Der
24-jährige Stanislaw B. war zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden,
weil er Gegenstände dabei hatte, die bei Demonstrationen verboten sind,
darunter eine Taucherbrille und Pfefferspray. Ob er überhaupt auf dem Weg
zur Demo war, wurde im Prozess nicht abschließend geklärt – B. wurde in 2,4
Kilometer Entfernung 70 Minuten vor Demobeginn festgenommen.
Die Voraussetzungen sind bei den meisten Angeklagten ähnlich: Die
Beschuldigten sind jung, haben ein Studium oder eine Ausbildung
abgeschlossen und gehen meistens geregelten Jobs nach. Einer arbeitet als
Verwaltungsangestellter in Bilbao, ein anderer studierte als Hochbegabter
in Newcastle, ein anderer züchtet Bohnen in Sizilien. Bis auf zwei ist
niemand vorbestraft oder polizeilich auffällig geworden.
Die Vorwürfe lauten fast immer gleich: Flaschenwürfe auf
Polizeibeamt*innen. Seit der Strafgerichtsverschärfung vom 1. Juli sind das
drei Delikte in einem: tätlicher Angriff, versuchte gefährliche
Körperverletzung und, wenn es aus einer Menschenmenge heraus passiert ist,
schwerer Landfriedensbruch. Das Mindeststrafmaß beträgt ein halbes Jahr
Haft.
Indem sie ihre Schuld eingestehen, nehmen die Angeklagten ihren
Verteidiger*innen die Möglichkeit, die Brauchbarkeit der Zeugenaussagen
anzuzweifeln, Vorwürfe auseinanderzunehmen, in die Offensive zu gehen.
Dabei stützen sich die Vorwürfe meist nur auf die Aussage eines einzigen
Polizisten. Subjektive Erinnerungen sind manchmal trüb – die Tage des
G20-Gipfels waren lang, die Straßen voll und wuselig, die Demonstrant*innen
waren alle ähnlich gekleidet, es war dunkel. Zwar gibt es riesige
Datenmengen Videomaterial, aber auch darauf ist es schwierig, einzelne
zweifelsfrei zu identifizieren.
Einigen Verteidiger*innen merkt man an, dass sie die Polizeizeugen gern
auseinandernehmen würden, manche sagen es auch offen. Aber sie dürfen
nicht, denn ihre Mandanten wollen raus. Dass sie vieles anfechten könnten,
wird deutlich, als der Verteidiger Lino Peters beim 11. G20-Prozess Ende
September sein Plädoyer hält.
Auch Peters’ Mandant wollte keine offensive Verteidigung, sondern legte ein
Geständnis ab. Im Plädoyer versucht der Anwalt unterzubringen, was er in
der Hauptverhandlung nicht thematisieren durfte. Man müsse verstehen, was
an den Gipfeltagen in Hamburg los war, sagt Peters. „Die Stimmung war
aufgeheizt, Leute haben sich fehlerhaft verhalten. Aber es wird wohl
niemand, außer dem Hamburger Bürgermeister, behaupten, andere
Konfliktparteien hätte keine Fehler gemacht.“ Olaf Scholz hatte nach dem
Gipfel behauptet, es habe keine Polizeigewalt gegeben, und harte Strafen
für Randalierer*innen gefordert. Obgleich viele Richter*innen bei ihren
Urteilsbegründungen betont haben, sich nicht von Scholz’ Forderung leiten
zu lassen, sei das fast unmöglich, sagt Peters.
Man müsse sich außerdem fragen, ob es auf ein staatliches Verschulden
hindeute, dass die Stimmung zwischen Demonstrant*innen und Polizist*innen
so aggressiv gewesen sei. Man müsse die Einsatzstrategie der Polizei
thematisieren, die folterähnlichen Zustände in der Gefangenensammelstelle,
die völlig unverhältnismäßige Untersuchungshaft. Und man müsse fragen: Wie
gefährlich kann eine leere Flasche für einen Beamten mit
Panzerschutzausrüstung sein? „Kann man von versuchter Körperverletzung
sprechen, wenn klar ist, dass ein uniformierter Polizist gar nicht verletzt
werden kann?“
Nicht zuletzt müsse man auch die Strafrechtsverschärfung vom 1. Juli, den
neuen Paragrafen 114, „tätlicher Angriff“, problematisieren. Das
Verfassungsgericht müsste entscheiden, ob der Paragraf überhaupt mit den
Grundrechten vereinbar sei.
Das Urteil fällt trotzdem wenig überraschend und nicht besonders mild aus:
Anderthalb Jahre Haft zur Bewährung, plus Geldstrafe und der Abgabe einer
DNA-Probe für eine Straftäterdatei. Der Angeklagte wirkt erleichtert,
Peters sieht unzufrieden aus.
Seit dem 12. Prozess nun haben die Geständnisse aufgehört. Nach dem
Franzosen macht auch der Italiener Emiliano P. keine Angaben zur Tat,
sondern verkündet stattdessen: „Ich bin stolz, Antifaschist und Kommunist
zu sein.“ Ohne Antifaschismus könnten weder Italien noch Europa existieren.
Seine Verteidigerin legt Widersprüche ein und zweifelt an der Legitimität
des Zeugen: Ein Zivilpolizist des bayrischen Sonderkommandos USK,
verkleidet mit künstlichen Koteletten, Brille und Vokuhila-Perücke. Auch
der Richter findet ihn nicht besonders glaubwürdig. Trotzdem verurteilt er
P. zu einer Bewährungsstrafe. Ein Erfolg, sagt die Anwältin. Mit weniger
hatte beim 14. G20-Prozess niemand mehr gerechnet.
Mehr zum Thema „Die Justiz nach dem G20-Gipfel“ und warum die Verfahren
gegen Polizist*innen so lange dauern, lesen Sie im Schwerpunkt der
gedruckten Nord-Ausgabe oder [1][hier].
6 Oct 2017
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## AUTOREN
Katharina Schipkowski
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