# taz.de -- In Windeln auf die Anklagebank: Krank vor Gericht? Scheißegal! | |
> David W. wartet in U-Haft auf seinen Prozess in Hamburg. Am | |
> Verhandlungstag klagt er über Durchfall, doch der Richter bleibt hart. | |
Bild: Hamburgs Strafjustizgebäude: Daniel W. musste hier in Windeln antanzen | |
HAMBURG taz | Die unantastbare Würde des Menschen ist eine | |
Idealvorstellung. In der Praxis kann dieses Ideal verletzt und die | |
Menschenwürde angetastet werden, trotz Artikel eins des Grundgesetzes. An | |
Gründonnerstag, dem 18. April, könnte es an einem Ort geschehen sein, an | |
dem man es eher nicht erwartet: im Saal 337 des Hamburger Landgerichts. | |
Der 20-Jährige David W. soll zur Hauptverhandlung erscheinen. Ihm und drei | |
weiteren Angeklagten werden Raubüberfälle auf Spielhallen und auf eine | |
Privatwohnung vorgeworfen. Am 18. April stehen zwei Zeugenvernehmungen auf | |
dem Programm. Sie betreffen allerdings nicht direkt den Tatbeitrag von | |
David W. | |
Dieser sitzt im Jugendgefängnis Hahnöfersand in Untersuchungshaft. Seit dem | |
Vortag klagt W. über heftigen Durchfall. Deshalb verweigert er am Morgen | |
des 18. April den 30 Kilometer weiten Transport zum Strafjustizgebäude am | |
Hamburger Sievekingplatz. Der Vorsitzende Richter Georg Halbach schickt den | |
medizinischen Sachverständigen Doktor S. nach Hahnöfersand. Der Arzt | |
untersucht den Angeklagten und erklärt ihn für verhandlungsfähig. Der | |
20-Jährige erhält ein paar Windeln und wird dann zum Gericht befördert. | |
Dort erscheint er nach 14 Uhr, mit einigen Stunden Verspätung. Die Kammer | |
hat da schon einen Zeugen in Abwesenheit des Angeklagten vernommen. Doktor | |
S., der den Angeklagten begleitet, bestätigt dessen Verhandlungsfähigkeit. | |
David W. erklärt, er habe sich auf der Fahrt „in die Hose gemacht“. Sein | |
Verteidiger beantragt, die Verhandlung zu unterbrechen. Richter Georg | |
Halbach weist das zurück und vernimmt den zweiten Zeugen, nun in | |
Anwesenheit von W. | |
## Zweimal Toilette ist drin | |
Die Verhandlung wird lediglich für zwei Toilettengänge des Angeklagten | |
unterbrochen. Der Verteidiger gibt zu Protokoll, dass er den Vorsitzenden | |
Halbach und seine Kammer für befangen halte und ablehne. | |
Das Gericht spricht zwar von „Inkontinenzvorlagen“, und „Tüchern“ stat… | |
„Windeln“, aber dass es im Kern so abgelaufen ist, darin sind sich | |
Verteidiger und Gericht einig. | |
Bewertet wird der Vorgang von beiden Seiten indes ganz unterschiedlich. | |
„Aus der Sicht des Vorsitzenden ergaben sich keine Anhaltspunkte für eine | |
Einschränkung der Verhandlungsfähigkeit“, teilt der Justizsprecher der taz | |
auf Anfrage mit. Es sei nicht festgestellt worden, ob der Anklagte, als er | |
im Gerichtssaal saß, „tatsächlich eingekotet hatte“. Ein Fäkaliengeruch … | |
für den Vorsitzenden „nicht wahrnehmbar gewesen“, so der Sprecher. Mit | |
anderen Worten: Das Gericht hält David W. für einen Simulanten. | |
## „Ich hab's gerochen“ | |
Sein Verteidiger Ernst Medecke hat zwei Gründe zu glauben, dass der | |
Durchfall echt war. Schon am Vortag sei sein Mandant von einem Arzt | |
untersucht worden. Der habe sich aus Misstrauen den Stuhlgang zeigen lassen | |
und „Dünnschiss“ festgestellt. „Außerdem habe ich direkt neben meinem | |
Mandanten gesessen und ich hab’s gerochen,“ sagt Medecke. | |
„Ein faires Verfahren ist von diesem Richter nicht mehr zu erwarten“, | |
begründet der Strafverteidiger seinen Befangenheitsantrag gegen die Kammer. | |
„Er hat dem Angeklagten jegliche Würde genommen.“ Er wolle gegen Halbach | |
überdies Strafanzeige wegen Nötigung im Amt stellen. | |
Erniedrigungen im Gerichtssaal verbindet man in Deutschland mit einer | |
anderen Epoche. Der Wehrmachtsgeneral Erwin von Witzleben, einer der | |
Verschwörer des 20. Juli 1944, musste etwa in zu weiten Hosen ohne Gürtel | |
und Hosenträger vor dem Volksgerichtshof erscheinen und war gezwungen, die | |
Hose mit der Hand festzuhalten, damit sie nicht hinunterrutschte. Der | |
Vorsitzende Roland Freisler machte sich deshalb über den Angeklagten | |
lustig. | |
Die Menschenwürde zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller | |
staatlichen Gewalt, heißt es weiter in Artikel eins des Grundgesetzes. | |
Könnte Richter Halbach das vergessen haben? | |
## Fahriger Richter | |
Am Dienstag nach Ostern wird weiterverhandelt. Der Angeklagte W. trägt | |
einen Trainingsanzug, dunkle Hose, weiße Kapuzenjacke. Auch an diesem | |
Verhandlungstag geht es nicht direkt um ihn. W. hört dem Mitangeklagten | |
Holger B. zu, der gegenüber dem Richter „Angaben zur Person“ macht. „Mei… | |
Mutter hat Leberzirrhose“, sagt B. „Sie hat ein Alkoholproblem?“, fragt | |
Richter Halbach. „Ja,“ antwortet der Angeklagte. „Gut!“, meint der Rich… | |
Der Vorsitzende wirkt an diesem Verhandlungstag etwas fahrig. | |
Zwei Tage später wird der Befangenheitsantrag gegen Halbach zurückgewiesen. | |
25 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Stefan Buchen | |
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