# taz.de -- Grüner Länderrat will Jamaika sondieren: Disziplinierte Geschloss… | |
> Die Grünen gehen den ersten Schritt zur Koalition mit FDP und Union. | |
> Kritik am Wahlkampf wird ausgeblendet, Einigkeit soll demonstriert | |
> werden. | |
Bild: Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg beschwört die Geschlossenh… | |
Berlin taz | Manchmal sagt Totenstille mehr als viele Worte. Der Basislinke | |
Thomas Dyhr, Seitenscheitel, Weste, kariertes Hemd, hat vorne wirklich | |
alles gegeben. Mehr Gerechtigkeit mit der FDP? Für ein Jamaika-Bündnis | |
fehle ihm die Phantasie. Ihn ärgere, dass das Ganze als Alternativlosigkeit | |
verkauft werde. Dyhr guckt wütend in den Saal, redet eindringlich. | |
Am Ende steigt der 59jährige aus Brandenburg von der Bühne und schiebt sich | |
durch die Delegierten nach hinten. Einsam sieht er aus. Wenn jetzt in den | |
Berliner Uferstudios ein Dinkelkeks auf den Boden fiele, könnte man das | |
Knistern hören. Stille. Kein einziger Delegierter klatscht. | |
Fest steht schon jetzt: Wer offen gegen ein Jamaika-Bündnis redet wie Dyhr, | |
der macht man sich im Moment bei den Grünen keine Freunde. | |
Trauen sich die Grünen – oder nicht? 80 Delegierte aus Bund und Ländern | |
trafen sich am Samstag in einer ehemaligen Industriehalle in | |
Berlin-Wedding, um das Wahlergebnis auszuwerten und über ein Bündnis mit | |
CDU, CSU und FDP zu sprechen. Und, das vorab, die Apelle, das schwierige | |
Experiment anzugehen, überwogen bei weitem. Die Stichworte, die bei den | |
Grünen am öftesten fallen, lauten „Verantwortung“ und „Ernsthaftigkeit�… | |
## Mehrheiten in der Mitte | |
Für Jamaika argumentieren zum Beispiel wichtige Grüne aus den Ländern. | |
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat keine | |
Probleme mit bürgerlichen Bündnissen. Er regiert selbst mit der CDU und | |
wirbt seit jeher dafür, Mehrheiten in der Mitte zu nutzen. Sein | |
Kernargument für Jamaika zielt auf Europa: Deutschland brauche eine | |
verlässliche Regierung. Und Europa brauche einen verlässlichen Partner in | |
Deutschland. Das, so die Botschaft, geht nur mit den Grünen. | |
Kretschmann unternimmt einen Ausflug in die Hochkultur. Wem die Phantasie | |
für Jamaika fehle, solle in die Oper gehen – wie er selbst. „Da wird aus | |
alten Stoffen ständig Neues gemacht.“ Die Zauberflöte könne immer wieder | |
begeistern, egal, wie viele Aufführungen man schon gesehen habe. Nun denkt | |
man kurz an die Arie der Königin der Nacht und an die Partner, die Merkel | |
schon an den Rand der Existenz regiert hat, aber das tut Kretschmann | |
natürlich nicht. Er erinnert an die Wahlplakate der Grünen und ihren Slogan | |
„Zukunft wird aus Mut gemacht“. Diese Plakate, ruft Kretschmann, schauten | |
die Grünen nun an. | |
Kretschmann hält die engagierteste Pro-Jamaika-Rede des Länderrats, und er | |
bekommt viel Applaus. Auch der Hesse Tarek Al-Wazir managt zu Hause | |
Schwarz-Grün. Er gibt am Rednerpult präzise Tipps, wie ein Bündnis gelingen | |
kann. Nerven behalten, zählt er auf. Inhalte vor. Disziplin. Vertrauen. | |
Ernsthaftigkeit. 40 Prozent der Wähler hätten sich erst in der letzten | |
Woche vor der Wahl für die Grünen entschieden. Da sei auf allen Kanälen | |
gelaufen, es gehe um Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün. Al-Wazir folgert: „Wir | |
haben die verdammte Pflicht, es ernsthaft zu versuchen.“ | |
## Ohne Selbstkritik | |
Dieser Appell zieht sich durch. Verantwortung und Ernsthaftigkeit. Die | |
Grünen haben sich untergehakt. Selbstbewusst wollen sie wirken, angstfrei | |
und entschieden. Über das Unangenehme schweigen sie. Obwohl der | |
Tagesordnungspunkt „Aussprache zur Wahl“ Stunden dauert, fehlt jede | |
Selbstkritik. Kein Grüner äußert einen Gedanken dazu, warum das | |
Wahlergebnis mit 8,9 Prozent nur mittelprächtig ausfiel. Immerhin, der | |
Schleswig-Holsteiner Robert Habeck merkt wenigstens an, dass 2013 die | |
Verantwortlichen für ein ähnliches Ergebnis in die Wüste geschickt wurden. | |
Politik sei eben ein „scheiß undankbares Geschäft.“ | |
Auch die wichtigen Leute vom linken Flügel reihen sich ein. Ihr Sound | |
unterscheidet sich aber in Nuancen. Parteichefin Simone Peter etwa sagt, | |
die Grünen müssten im Zweifel auch in die Opposition gehen. Aber das würden | |
sowieso alle unterschreiben, die Frage ist nur: Ab wann geht man die | |
Opposition? Fraktionschef Anton Hofreiter plädiert eindringlich für | |
Geschlossenheit. Man dürfe nicht alles glauben, was in Medien berichtet | |
werde, nicht über jede Stöckchen springen, sagt er. „Wir sind die letzte | |
verbliebene Stimme aller progressiven Menschen in diesem Land.“ | |
Auf der Bühne wird auch scharfe Kritik formuliert, aber nur aus dritten | |
oder vierten Reihe. Dyhr gibt im gefliesten Flur Fernsehinterviews, in | |
denen er erklärt, die Grünen müssten eine Mehrheit mit SPD, FDP und | |
Linkspartei suchen. Ein Mann aus dem Kreisverband Köln ruft, er habe das | |
Gefühl, die Grünen seien Getriebene und nicht mehr Herren des Prozesses. | |
Eine junge Frau aus dem Landesvorstand Berlin wirbt für queerfeministische | |
Themen in den Sondierungen. „Führt uns nicht um jeden Preis in eine | |
Regierung“, sagt sie. „Denn dann werden viele von uns euch nicht folgen.“ | |
## Versöhnungssignale nach links | |
Doch hinter der Fassade gibt es sie, die wirklich harschen Misstöne. Auch | |
bei dem internen Treffen der Linksgrünen am Freitagabend artikuliert sich | |
Ärger. Mehrere Redner hätten gefordert, auf das Auswärtige Amt zu | |
verzichten, berichten Teilnehmer. Es sei „überraschend krawallig“ | |
zugegangen. Ein Zeitungsbericht hatte zuvor die Diskussion über mögliche | |
Ministerien für die Grünen angeheizt. Cem Özdemir, das glauben viele, | |
liebäugelt mit dem Posten des Außenministers. Doch nutzt den Grünen dieses | |
Amt? Das sei doch nur ein Prestigeposten, weil die Kanzlerin heute die | |
Außenpolitik dominiere, lästern manche. Stattdessen müsse man ein | |
wichtigeres Ressort beanspruchen. | |
Mit solchen Sätzen lässt sich kein Grüner zitieren, weil sie auch eine | |
Kritik am Spitzenduo bedeuten. Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt reden | |
natürlich auch, und sie bemühen sich, alle mitzunehmen. Özdemir verspricht | |
eine Wahlanalyse neben den Sondierungen und betont den Führungsanspruch der | |
Spitzenkandidaten. Die Enscheidungsstrukturen seien glasklar, sagt er – | |
Göring-Eckardt und er führten die Sondierungen. Aber: „Alles, was da | |
gemacht wird, entscheiden wir zusammen.“ | |
Göring-Eckardt sendet Versöhnungssignale an die zweifelnden Linksgrünen. | |
Bei diesem Bündnis müsse es auch um soziale Gerechtigkeit gehen. Um die | |
Löhne von Pflegekräften, um anständige Wohnungen. Und sie verspricht | |
Transparenz. „Wir müssen von Anfang an darüber reden, was wir verhandeln.“ | |
Die Grünen müssten erklären, dass es um Kompromisse gehe. Und dürften | |
Einigungen nicht als das eigene Programm verkaufen. Als Treppenwitz der | |
Geschichte bezeichnet Göring-Eckardt, dass ausgerechnet die streitsüchtigen | |
Grünen sich nach einer Woche sortiert hätten. | |
Das ist in der Tat bemerkenswert. Während Merkel und Seehofer sich erst | |
einmal intern zu einem Versöhnungsgespräch treffen wollen, präsentieren | |
sich die Grünen professionell und vorbereitet. Am Ende beschließen die | |
Delegierten einhellig, in Sondierungen mit CDU, CSU und FDP zu gehen. Drei | |
Enthaltungen, sonst nur Ja-Stimmen. Auch das 14-köpfige Sondierungsteam | |
wird bestätigt. Die Grünen und Jamaika, das kann etwas werden. | |
30 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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