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# taz.de -- Koalitionen nach der Bundestagswahl: Der Weg nach Jamaika
> Für eine Koalition aus Union, FDP und Grünen gibt es große Hürden.
> Besonders die Grünen sind skeptisch. Könnte Merkel sie dennoch anlocken?
Bild: Bereiten sich schon auf den Fall des Falles vor: die Grünen-Spitzenkandi…
Berlin taz | Die Grünen könnten am Tag nach der Wahl vor einem
„existenziellen Dilemma“ stehen, fürchtet ein Parteistratege. Was, wenn
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) anruft – und zu Verhandlungen über ein
Jamaika-Bündnis einlädt? Dann kann viel schiefgehen, in jede Richtung.
Verhandeln die Grünen schnell, freundlich und erfolgreich mit Union und
FDP, witterten linksgrüne Milieus Verrat urgrüner Inhalte. Stiegen sie
schnell aus Verhandlungen aus oder weigerte sich gar von Anfang an, hieße
es in den Medien, sie seien feige Großsprecher, die Angst vor der
Verantwortung hätten.
Hinter den Kulissen bereiten sich die Grünen deshalb auf den Fall des
Falles vor. Angenommen, das Wahlergebnis ähnelte den Umfragen: nur eine
Große Koalition oder ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen hätte
eine Mehrheit. Viel spricht dafür, dass Merkel dann zunächst Jamaika
verhandeln müsste. Eine SPD, die unter dem historischen 23-Prozent-Tief von
2009 bliebe, wäre am Boden zerstört und würde vermutlich abwinken. Eine Tür
öffnete sich für ein Bündnis, das lange undenkbar schien.
Bei den Grünen sagen alle: In diesem Fall müssten sie ernsthaft verhandeln,
alles andere wäre der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln. Schließlich wäre
Jamaika zu diesem Zeitpunkt das einzig denkbare Regierungsbündnis, das
Argument der staatspolitischen Verantwortung wäre übermächtig. Wenn im
Moment grüne Spitzenleute in jedes Mikrofon sagen, wie schwer vorstellbar
ein Bündnis mit der FDP sei, ist das durchaus ernst gemeint. Die
Meinungsunterschiede sind riesig. Aber die Botschaft dient eben auch dazu,
eigene Wähler kurz vor dem Wahltag nicht zu verunsichern.
Wie aber könnte Merkel die skeptischen Grünen in ein Bündnis locken? Für
die Kanzlerin und die FDP wäre Jamaika ein schwieriges Experiment, aber den
gefährlichsten Schritt müsste die Ökopartei machen, weil sie das Lager
wechselte. Gerade unter Linksgrünen gibt es riesige Vorbehalte, manche
fürchten, Jamaika bedrohe die Existenz der Ökopartei.
## Ein Scheitern wäre auch für Merkel eine Niederlage
Einen Satz hört man bei den Grünen, die sich Jamaika wünschen, immer
wieder: „Merkel weiß, dass sie uns beim Klimaschutz ein Angebot machen
muss.“ Heißt: Sie wird sich vorab gut überlegen, welches Geschenk sie
mitbringt. Merkel hätte ja kein Interesse an einem schnellen Scheitern der
Verhandlungen, das wäre auch für sie, die Einladende, eine Niederlage. Für
denkbar halten Grüne zum Beispiel einen Mindestpreis für CO2-Zertifikate,
wie ihn Großbritannien schon eingeführt hat. Er würde schmutzige Industrien
und Kraftwerke teurer machen und die Energiewende beschleunigen. Auch beim
Ausstieg aus der Kohlekraft bräuchten die Grünen Erfolge. Wenn sich nicht
20 Kraftwerke sofort abschalten lassen, was die Ökopartei offiziell fordert
– ein paar müssten es schon sein.
Was der Sache nur dienlich sein kann: Merkel steht beim Klimaschutz selbst
unter Druck, Deutschland hat international Zusagen gemacht. Um die Ziele
des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen, wird die Zeit knapp. Merkel,
die sich früher als Klimakanzlerin feiern ließ, hat bisher eine dürftige
Bilanz vorzuweisen. Sie muss sich hier sowieso stärker engagieren. Die
Koalition mit den Grünen böte ihr die Gelegenheit, ihr Ökoimage
aufzupolieren – und lästige Probleme beim kleinen Partner abzuladen.
Bei der Dieselaffäre und der Zukunft des Verbrennungsmotors scheinen die
Fronten zwischen Union, FDP und Grünen verhärtet, doch auch hier wären
Kompromisse denkbar. Schließlich haben die Automobilkonzerne die
Elektromobilität als entscheidenden Wachstumsmarkt entdeckt. Das wissen
Union und FDP, die sich traditionell als Fürsprecher der Firmen sehen. Auch
die Grünen-Spitzenleute Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt betonen
stets, wie wichtig ihnen der Erhalt der 800.000 Jobs in der Autobranche
sei. Sie würden nicht auf ihrem harten Ziel bestehen, ab 2030 nur noch
emissionsfreie Neuwagen zuzulassen.
Özdemir sprach zuletzt davon, eine neue Regierung müsse den „Einstieg in
den Ausstieg“ aus dem Verbrennungsmotor beschließen. Das öffnet Raum für
sanftere Lösungen. Auch eine blaue Plakette für saubere Dieselautos wird
von Grünen als Beispiel für Einigungsmasse genannt. Fahrverbote könnten
perspektivisch sowieso von Gerichten verhängt werden. Warum nicht als
Gesetzgeber vorher handeln und den Kommunen ein Instrument in die Hand
geben?
## Der Staat schwimmt im Geld
Ein Jamaika-Deal, das betonen viele Grüne, müsste nach einem Muster gewebt
sein: „Eine reine Ökoagenda reicht nicht.“ Nicht umsonst werben sie für
„Umwelt und Gerechtigkeit“. Die Grünen wollen auch in der Sozial- und
Familienpolitik oder bei Europa Zugeständnisse. Dahinter steckt die Angst,
als reines Ökoanhängsel von Schwarz-Gelb verspottet zu werden – und jene
Wähler vor den Kopf zu stoßen, denen eine Gerechtigkeitsagenda wichtig ist.
Wenn es um Inhalte für Jamaika geht, verweisen Grüne immer wieder auf den
Zehn-Punkte-Plan, in dem sie Ziele für eine Regierung festgelegt haben.
Darin werden relevante Reformen der Sozialsysteme versprochen. Die
Ökopartei will schrittweise eine solidarische Bürgerversicherung für alle
einführen, in die auch Beamte oder Selbständige einzahlen. Und sie möchte
zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung zurückkehren, die
Beiträge würden also je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern
bezahlt.
Besonders die Linksgrünen wollen sich Jamaika nur vorstellen, wenn Union
und FDP eine solche Forderung mittragen. Ein paar Milliarden Euro mehr für
Pflegekräfte oder gegen Kinderarmut reichten nicht für mehr Gerechtigkeit,
sagt ein linker Stratege. „Da muss eine echte, systemische Veränderung
her.“ Solche Punkte lehnen Union und FDP bisher entschieden ab.
Was Jamaika aber erleichtern würde, ist die Tatsache, dass der Staat in
Geld schwimmt. Der Wirtschaft geht es glänzend, die Steuereinnahmen sind
hoch, im Haushalt gibt es viel Spielraum. Wer etwas zu verteilen hat, kann
Konflikte leichter lösen – etwa indem er mehr Geld gegen Kinderarmut
lockermacht.
## Umstrittener Schuldenschnitt
Wenn linke Grüne über Jamaika nachdenken, fällt immer das Wort Europa.
Tenor: Die harte Sparpolitik Merkels und Schäubles könne man nicht
legitimieren. „Mit uns wird es eine klare Kurskorrektur in der deutschen
Europapolitik geben“, versprechen sie in ihrem Zehn-Punkte-Plan. Die Grünen
wollen zum Beispiel einen Schuldenschnitt für Griechenland und mehr
sozialökologische Investitionen. Die Griechenland-Krise käme nach der Wahl
sowieso auf die Agenda, weil ein Hilfspaket ausläuft – und es dem Land
weiter schlecht geht. Wie ein Jamaika-Kompromiss aussehen könnte, ist
offen.
Gerade die FDP vertritt gegenteilige Positionen, sie sträubt sich gegen
einen Schuldenschnitt und wirbt für den Austritt von EU-Staaten aus dem
Euro. Wie bei anderen Themen auch wird die Frage sein, ab wann die Grünen
die von ihnen gewünschte Kurskorrektur konstatieren.
Und die Einschätzungen dürften weit auseinandergehen. Während viele
Linksgrüne dem Bündnis kaum eine Chance geben, haben Özdemir und
Göring-Eckardt ein veritables Interesse an einer Regierungsbeteiligung.
Landet die Ökopartei mit schwachem Ergebnis in der Opposition, ist ihre
politische Karriere erst einmal zu Ende.
Entscheidend ist, wer in der grünen Verhandlergruppe für Sondierungen
sitzt. Das entscheiden die Gremien kommende Woche. Bisher seien sechs
Personen gesetzt, heißt es in Grünen-Kreisen: Die Spitzenkandidaten Özdemir
und Göring-Eckardt, Parteichefin Simone Peter, Fraktionschef Anton
Hofreiter, Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann und Michael Kellner,
der Politische Bundesgeschäftsführer. Wahrscheinlich wird dieses 6er-Team
noch ergänzt.
## Trittin könnte doch mitreden
2013 redeten zum Beispiel auch wichtige Leute aus den Ländern mit,
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Sylvia
Löhrmann, damals Vizeministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen.
Dieses Jahr könnte es eine Überraschung geben. Bei den Grünen kursieren
Gerüchte, dass auch Jürgen Trittin zum Sondierungsteam gehören könnte.
Eigentlich ist Trittin, bis 2013 der starke Mann der Grünen, nur noch
einfacher Abgeordneter. Doch er hat es geschafft, bis heute ein Wortführer
der Linksgrünen zu bleiben. Dass er mitreden könnte, liegt ausgerechnet an
Spitzenkandidatin Göring-Eckardt, die ihn eigentlich von Entscheidungen
fernhalten will. Sie kündigte Ende August überraschend an, Trittin werde in
Koalitionsverhandlungen keine Rolle spielen. Trittin gilt als Schwarz-Grün-
und Jamaika-Skeptiker.
Die harsche Ansage sorgte für Unmut bei den Linksgrünen – und für eine
Solidarisierung mit Jürgen Trittin. „Ein oberschlauer Schachzug von
Katrin“, lästert ein wichtiger Grüner. Wäre Trittin dabei, hätte die
Spitzenfrau den härtesten Jamaika-Kritiker also selbst wieder ins Spiel
gebracht.
22 Sep 2017
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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