# taz.de -- Debatte Wahlkampf und Wohnungsnot: Wer sich bewegt, verliert | |
> Die Wohnungsnot ist eines der drängendsten Probleme des Landes. Die | |
> Parteien tun zu wenig. Erfahrungen einer leidgeprüften Berlinerin. | |
Bild: In die Höh': Bundesweit fehlen rund eine Million Wohnungen, besonders So… | |
Der Eisladen in unserem Viertel hat neue Betreiber. Es gibt dort jetzt | |
Blutorangensorbet statt Spaghettieis aus verkratzten Glasschälchen. Und der | |
Kaffee ist besser, wenn auch etwas teurer. Ich mag Eis und guten Kaffee. | |
Doch ich sehe den Eisladen, direkt daneben die Riesenbaustelle, auf der | |
gerade Hunderte von Eigentumswohnungen hochgezogen werden und denke: Bitte | |
nicht schon wieder. Nicht schon wieder kämpfen. Nicht schon wieder | |
umziehen. | |
Seit 17 Jahren lebe ich als Mieterin in Berlin. Lange war das ein | |
entspanntes Dasein, selbst mit kleinem Einkommen: Berlin ist eine | |
Mieterstadt, rund 86 Prozent des Bestandes sind Mietwohnungen. Anfang der | |
Nullerjahre gab es noch reichlich Wohnraum zu günstigen Preisen. Mein | |
erstes WG-Zimmer in einem heruntergewohnten Altbau im Ostteil der Stadt | |
kostete noch 180 D-Mark. Mit steigendem Alter und Einkommen wurden unsere | |
Wohnungen größer. Leider entwickelte sich der Wohnungsmarkt ebenfalls – in | |
die gegenteilige Richtung: Inzwischen herrscht Wohnungsnot, die Stadt | |
wächst, die Mieten steigen unaufhaltsam. Weil die Landesregierung jahrelang | |
den sozialen Wohnungsbau vernachlässigte und städtisches Wohneigentum an | |
private Investoren verkaufte, ist Berlin zum Paradies für Eigentümer und | |
Vermieter geworden. Und die Mieter halten es wie die Kaninchen: Sie bleiben | |
im Bau und rühren sich nicht von der Stelle – auch wenn es eng wird. | |
Wer sich bewegt, verliert. Wer nicht verlieren will, muss raus an den | |
Stadtrand, wo der Weg zur Arbeit lang ist, aber die Mieten noch bezahlbar. | |
Ich kenne Familien, die jeden Tag zwei Stunden zur Arbeit pendeln oder sich | |
zu viert auf 70 Quadratmetern festkrallen. Anderswo kennen sie diese | |
Zustände schon lange. In München kostet die durchschnittliche Kaltmiete | |
15,20 Euro pro Quadratmeter, während Berlin mit neun Euro Platz 22 belegt – | |
hinter kleineren Städten wie Heidelberg oder Tübingen. Trotzdem trifft die | |
Mietenexplosion Normalverdiener in der Hauptstadt am härtesten: Münchner | |
haben ein durchschnittliches Haushaltseinkommen von 2137 Euro im Monat, | |
Berliner rund 600 Euro weniger. Wo man mehr als ein Drittel seines | |
Einkommens für die Warmmiete (ohne Stromkosten!) aufwenden muss, wird | |
Wohnen zur sozialen Frage. | |
Bundesweit fehlen rund eine Million Wohnungen, besonders Sozialwohnungen. | |
Nach Berechnungen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung | |
müssten bis 2030 jährlich 230.000 neue Wohnungen entstehen. Das Wohnen ist | |
zu einem der drängendsten Probleme des Landes geworden. Die Parteien haben | |
im aktuellen Wahlkampf erstaunlich wenig Neues zu bieten, sondern nur die | |
alten Rezepte: SPD, Grüne und Linke wollen mehr sozialen Wohnungsbau und | |
die Mietpreisbremse verschärfen. Union und FDP wollen Eigentumserwerb | |
erleichtern und den Neubau mit mehr Abschreibungsmöglichkeiten ankurbeln. | |
Das will auch die AfD. | |
## Viele kauften sich per Kredit frei | |
Die Grundprobleme – niedrige Hypothekenzinsen, welche die Kaufpreise | |
ansteigen lassen und der unverminderte Zuzug in die Städte, der Bauland | |
knapp macht, werden dadurch nicht gelöst. Immobilienexperten | |
prognostizieren jetzt schon, dass die Preise weiter steigen werden, egal | |
wer die Wahl gewinnt. | |
Als die Nullerjahre vorbei waren und wir ans Zusammenziehen dachten, hörte | |
man immer öfter die Frage: Mietest du noch, oder kaufst du schon? Alle | |
waren es leid, sich von der Preisspirale quer durch die Stadt treiben zu | |
lassen. Einige engagierten sich in lokalen Mieterbündnissen, manche traten | |
in Genossenschaften ein oder zogen aufs Land. Und immer mehr Bekannte | |
kauften sich mit dem Geld der Eltern oder einem Kredit von der Bank frei. | |
## Das Gegensteuern von rot-rot-grün verpufft | |
Mein Freund und ich sind eigentlich gerne Mieter. Wir wollen kein Eigentum, | |
das uns an einen Ort bindet und keine Schulden bei der Bank. | |
Einfamilienhaussiedlungen finden wir spießig. So anstrengend das | |
Zusammenleben manchmal ist – für uns birgt das Mietshaus noch immer das | |
Versprechen von Großstadt. | |
Leider scheint die Großstadt dieses Versprechen vergessen zu haben. Die | |
berühmte „Berliner Mischung“, vom Arbeitslosen bis zur Akademikerfamilie | |
alle unter einem Dach, ist vom Aussterben bedroht. Wer kann, kauft sich in | |
die schönsten Ecken der Innenstadt ein, die zunehmend Eigentümern | |
vorbehalten sind: Jede vierte Immobilie ist mittlerweile ein | |
Eigentumsobjekt. Wer da nicht mithalten kann, strampelt sich ab, um | |
wenigstens noch am Rand der schönen Ecken bleiben zu dürfen. | |
Nur: Die Ränder verschieben sich immer schneller. Im vergangen Jahr sind | |
die Mieten in Berlin um rund vier Prozent gestiegen. Damit liegt Berlin | |
unter den Top 10 der 50 teuersten Städte. Der rot-rot-grüne Senat versucht | |
gegenzusteuern, weist Milieuschutzgebiete aus, baut wieder Sozialwohnungen | |
– doch es reicht einfach nicht. | |
## Letzte Hilfe: Mitgliedschaft im Mieterschutzbund | |
Als der Umzug in eine größere Wohnung unausweichlich wurde, war eine | |
Vierzimmerwohnung in unserem Kiez unbezahlbar geworden. Etwas weiter | |
nördlich fanden wir eine: der Hinterhof verwahrlost, die Wohnung ein | |
Totalsanierungsfall, aber groß. Gerade hatte der Berliner Senat als erstes | |
Bundesland die Mietpreisbremse eingeführt. Doch unser Vermieter ignorierte | |
sie einfach und verlangte obendrauf eine vierstellige „Vermittlungsgebühr“. | |
Eine Frechheit, aber nicht illegal. Zum ersten Mal rechneten wir unsere | |
Kaufchancen aus. Ergebnis: Vergiss es. Für eine 120-Quadratmeterwohnung | |
hätten wir bereits 540.000 Euro hinlegen müssen. Selbst wenn uns jemand | |
einen Kredit gegeben hätte – wir könnten ihn zu Lebzeiten wohl nicht | |
abbezahlen. | |
Wir zahlten die Fantasiegebühr. Jetzt sitzen wir in unserer selbst | |
renovierten Wohnung und beobachten die Veränderungen. Bei Netto gibt es | |
jetzt teuren Wein, die Nachbarn munkeln, es werde bald ein Bioladen | |
aufmachen. Es geht wieder los. Und wie es aussieht, wird uns auch nach der | |
Wahl keiner schützen können – außer vielleicht die Mitgliedschaft im | |
Mieterschutzbund. | |
17 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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