# taz.de -- Aus Birma vertriebene Rohingya: Ratlos, erschöpft und hilflos | |
> Fast 300.000 Rohingya sind innerhalb von zwei Wochen aus Birma nach | |
> Bangladesch geflohen. In ihrer Heimat brennt das Militär ihre Häuser | |
> nieder. | |
Bild: Ausharren im Schlamm ist das Einzige, was den Geflüchteten bleibt | |
Cox’s Bazar taz | Unter einem schwarzen Regenschirm am Straßenrand befindet | |
sich alles, was Nur Hossain geblieben ist. In einen Reissack passen alle | |
seine Habseligkeiten. Kalima, mit anderthalb die jüngste von vier Kindern, | |
kaut auf einem aufgeweichten Keks. Als er in den Schlamm fällt, hebt Nur | |
Hossain ihn wieder auf. Das Kind gluckst zufrieden. Ein seltener Anblick | |
inmitten der Misere. | |
Fast 300.000 Menschen sind in den vergangenen zwei Wochen aus Birma ins | |
angrenzende Bangladesch geflohen. Die Flüchtlinge gehören der muslimischen | |
Minderheit der Rohingya an, die in Birma, das sich selbst Myanmar nennt, | |
keine Staatsbürgerschaft erhalten. Die Rohingya sind die größte staatenlose | |
Gemeinschaft der Welt. Seit Jahrzehnten werden rund 1,1 Millionen Menschen | |
im mehrheitlich buddhistischen Birma diskriminiert. Die landesweite Devise | |
lautet: „Raus mit den Rohingya“. An der Grenze zu Bangladesch scheint | |
dieses Szenario Wirklichkeit geworden zu sein. | |
Das Nachbarland hat in der Vergangenheit schon rund Hunderttausende | |
Flüchtlinge aus Birma aufgenommen. Rund um die Camps sieht man die neuen | |
Vertriebenen mit leeren Blicken und leeren Mägen. Sie warten am Grenzfluss | |
Naf, den sie mit wackeligen Booten überqueren. Sie suchen in Madrasas und | |
Moscheen auf der anderen Seite, in Bangladesch, Zuflucht. Nur Hossain, der | |
Mann mit dem Regenschirm, harrt mit seiner Familie seit drei Tagen auf der | |
Landstraße nahe dem Flüchtlingscamp aus. Die birmesische Grenze ist nur ein | |
paar Stunden Fußmarsch entfernt. Eine bessere Idee, als bei den anderen | |
Flüchtlingen zu bleiben, hat der 40-Jährige nicht. Vor ihm landet ein | |
T-Shirt im Dreck. Bangladescher, die helfen wollen, haben es von der | |
Ladefläche eines vorbeiratternden Lastwagens geworfen. Kinder rennen dem | |
Fahrzeug mit nach oben gereckten Armen hinterher. | |
Nur Hossain hat sein Dorf in Birma vor drei Tagen verlassen. Nach einem | |
langen Fußmarsch überquerte er mit seiner Frau und den Kindern in einem | |
Kanu den Grenzfluss Naf. Ein paar Bangladescher haben ihn danach am Ufer | |
aufgelesen und bei den Camps abgesetzt. Hier harrt er nun aus, ratlos, | |
erschöpft und hilflos. Er erzählt. | |
Sein Haus sei abgebrannt. Er habe nichts mehr und sei wütend. Er sieht müde | |
aus. Soldaten hätten die Leute aus seinem Dorf mit Messern und | |
Gewehrschüssen angegriffen. „Ich weiß nicht, wieso die Soldaten das mit uns | |
machen“, sagt er ratlos. | |
Der Konflikt um die Rohingya schwelt in Birmas Teilstaat Rakhine, an der | |
Grenze zu Bangladesch, schon seit Jahrzehnten. Immer wieder trieben | |
Militäroperationen Rohingya über die Grenze nach Bangladesch. Fast eine | |
halbe Million hat sich in Flüchtlingslagern des überbevölkerten Landes | |
eingerichtet. Dort, wo die „Bengali“ nach Meinung der Birmesen auch | |
hingehören. Für sie sind die Rohingya illegal aus Bangladesch eingewandert. | |
Jahrzehntelang hat das birmesische Militär in der ehemaligen Diktatur die | |
Furcht vor dem „Anderen“ kultiviert. Die Angst instrumentalisierten die | |
Generäle für sich, um so ihre Macht zu sichern. Anlass zur erneuten | |
Militäroperation haben ihnen die Rohingya selbst gegeben. Die selbst | |
ernannte Befreiungsarmee Arakan Rohingya Salvation Army (Arsa) griff am 25. | |
August in einer konzertierten Aktion fast 30 Polizeiposten an. | |
Die Rebellen hatten vor rund einem Jahr zu den Waffen gegriffen. Damals | |
reagierte das birmesische Militär postwendend mit einer neuen | |
Sicherheitsoperation gegen die „Terroristen“. Nun, nach der neuerlichen | |
Attacke, kam die militärische Reaktion mit voller Wucht. Dutzende | |
Flüchtlinge, mit denen die taz in Bangladesch gesprochen hat, berichten | |
einstimmig von niedergebrannten Häusern. Ihre Aussagen decken sich mit | |
Satellitenbildern, die Human Rights Watch auswertete. Die | |
Menschenrechtsorganisation spricht von ethnischer Säuberung. Mittlerweile | |
hat die Rebellenarmee einen einmonatigen Waffenstillstand verkündet (siehe | |
Kasten). | |
Aus Birma selbst kommt keine Kritik am militärischen Vorgehen: Selbst | |
Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, seit einem Jahr Birmas | |
Staatsrätin, mahnt die Militärs nicht zur Mäßigung. Stattdessen beteiligt | |
sich die Kommunikationsabteilung der Regierung an der hetzerischen | |
Antiterrorpropaganda. | |
U Kyaw Win vom Burma Human Rights Network hält die internationale Kritik an | |
Aung San Suu Kyi jedoch für übertrieben: „Man hat inzwischen den Eindruck, | |
Aung San Suu Kyi persönlich würde Menschenrechtsverletzungen begehen.“ | |
Vielmehr fühle er sich davon beleidigt, dass dem Militärchef – der nach wie | |
vor mächtigsten Figur in Birma – auf der ganzen Welt der rote Teppich | |
ausgerollt wird. Auch die deutsche Bundeswehr lud den Oberbefehlshaber des | |
Militärs, Min Aung Hlaing, im Sommer samt Delegation nach Berlin ein. | |
Von alldem weiß Formina nichts. Die 18-Jährige sitzt auf einem Bett, in | |
einem mit bunten Kacheln geschmückten Schlafzimmer, eine Minute entfernt | |
vom Straßenrand, wo sich andere Rohingya um Reistüten streiten. Dass | |
Formina auf ihrer Flucht ein neues Zuhause gefunden hat, hat sie Shajeda | |
Begum zu verdanken, einer herzlichen Frau von 45 Jahren, die am liebsten | |
ihre vom Betelnusskauen roten Zähne zeigt. | |
Es war nachts, als Shajeda das junge Mädchen von der Straße aufgabelte. Die | |
Familie hatte zur Feier des muslimischen Eid-Tages eine Kuh geschlachtet | |
und auf der Straße mit den Flüchtlingen geteilt. Formina war nass vom | |
Regen. Ihre Familie hatte sie auf der Flucht aus Birma verloren. Ihre neue | |
Ziehmutter gab ihr trockene Kleider und nahm sie zu sich nach Hause . | |
Seit acht Tagen ist Formina bei ihrer neuen Familie. In dem Haus gibt es | |
einen Fernseher und echte Betten. Sogar einen Schminktisch hat Formina | |
jetzt in ihrem Zimmer. Shajeda und ihre sechs Kinder hören still zu, als | |
die junge Rohingya von ihren Strapazen erzählt. „Wir konnten nicht ruhig | |
schlafen“, erzählt sie über ihre letzte Nacht in Birma. Aus der Ferne waren | |
Schüsse zu hören. Die Familie wusste: Das Militär rückt an. Vor ein paar | |
Monaten haben Soldaten ihren Bruder verschleppt. Er ist nicht | |
wiedergekommen. In ihrem neuen Zuhause wird gelacht, gescherzt, geherzt und | |
geküsst. Der Kontrast zu den Szenen vor der Tür könnte nicht größer sein. | |
## Bangladesch ist mit den Flüchtlingszahlen überfordert | |
Mitarbeiter von Hilfsorganisationen schätzen, dass sie vielleicht ein | |
Viertel des eigentlichen Bedarfs an Essensausgaben decken können. NGOs | |
zapfen ihre Notfallfonds an. Fotografen schwirren im Auftrag von | |
humanitären Organisationen in die Camps aus, um für Spendenaktionen | |
eindrückliche Bilder vom Leid der Menschen zu sammeln. Und Bangladesch ist | |
mit den Flüchtlingszahlen überfordert. In einem anderen Landesteil sind | |
Hunderttausende von der schwersten Flut seit 40 Jahren betroffen. Robert | |
Watkins, der zuständige Koordinator der Vereinten Nationen geht davon aus, | |
dass die NGOs vor Ort rund 77 Millionen US-Dollar benötigen, um alle | |
Flüchtlinge zu versorgen. | |
„Wir können uns nicht auch noch mit Problemen befassen, die Birma uns | |
einfach so aufbürdet“, sagt Jashim. Der Bangladescher arbeitet für die | |
Hilfsorganisation Save the Children. Die Hilfsgüter, die für die | |
Einheimischen gedacht waren, gehen nun an Rohingya-Flüchtlinge. Es gebe | |
kaum noch Fisch auf den Märkten, die Preise für Lebensmittel hätten sich | |
verdoppelt, und die Flüchtlinge machten als billige Arbeitskräfte den | |
Bangladeschern die Löhne kaputt. „Verzweifelte Menschen sind anfällig für | |
radikale Tendenzen“, sagt er und fügt hinzu: „Das Problem ist in Birma | |
entstanden, also muss es da auch gelöst werden.“ Morgen verteilt er wieder | |
Essen an die Flüchtlinge. | |
10 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Verena Hölzl | |
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