# taz.de -- Subjektive Lärmwahrnehmung: Schnaaaaauzeeeee | |
> Seit es urbane Gesellschaften gibt, gibt es Ruhestörung. Die aber lässt | |
> sich objektiv nicht definieren. Denn Lärm ist Ansichtssache. | |
Bild: Krach. Kann. Nerven | |
„Es ist zwar ein wenig schmierig, auch ist es lästig, sich schon bei | |
Lebzeiten die Ohren zu verstopfen, es hält den Lärm auch nicht ab, sondern | |
dämpft ihn bloß – immerhin“, schrieb Franz Kafka 1915 an seine Verlobte | |
Felice Bauer. Er sprach von Ohropax, „Geräuschschützer für Gesunde und | |
Kranke“, die der Potsdamer Apotheker Maximilian Negwer seit dem Jahr 1908 | |
verkaufte. Später, gibt Kafka zu, hielt er es gar nicht mehr aus ohne die | |
formbaren Wachbällchen im äußeren Gehörgang. | |
Ein noch unbequemerer Vorläufer von Ohropax war das Antiphon von 1885, ein | |
„Rettungsapparat gegen den Hörzwang“ aus einer Hartgummikugel mit Bügel. | |
Die Erfindung ist weniger Erwähnung wert als ihre 50-seitige | |
Begleitbroschüre: ein Pamphlet gegen die Massen der Stadt, die Ungebildeten | |
und Unnützen, den Pöbel und seine Ähnlichkeit zu Brüllaffen. Der Zank um | |
das ständige Rauschen des Wohnens und Arbeitens zeichnete einen Kultur- und | |
Klassenkampf der Gelehrten und Bürgerlichen gegen die Arbeiter, die | |
Hämmerer und Rammler. | |
Der Philosoph Theodor Lessing moserte in seiner „Kampfschrift gegen die | |
Geräusche unseres Lebens“ (1908): „In jede geistige, jede theoretische | |
Schöpfung bricht lärmender Pöbel ein (…). Der Mangel an gesundem, tiefem | |
Schlaf zerrüttet unsre Nerven.“ | |
Dabei hatte Nachtruhe noch in der frühen Neuzeit weniger mit Lärm zu tun | |
als mit Brandschutz. Die Polizei hatte die Aufgabe, die Nacht von Gefahren | |
freizuhalten, von den Räubern, dem liederlichen Charivari, vor allem aber | |
dem Feuer. | |
Seit dem 15. Jahrhundert achteten die Wachen in Europas Städten darauf, | |
dass nachts niemand arbeitete, und synchronisierten damit den Schlaf. Wenn | |
den etwas störte, waren es die Kirchenglocken, die erst im säkularisierten | |
Frankreich nach der Revolution von 1789 ernst zu nehmende Gegner fanden. Im | |
Deutschen Bund werden im Angesicht der neuen französischen Nachbarrepublik | |
„Ruhe und Ordnung“ propagiert – das meinte neben den guten Sitten auch die | |
staatliche Sicherheit. | |
## Die Kneipe, das Wohnzimmer der Stadt | |
Um die Jahrhundertwende wuchsen die Städte, ihre Straßen säumten | |
elektrische Laternen. Auch nachts kreischten die Maschinen. Gleise wurden | |
renoviert, Straßen gereinigt und Schlaglöcher gestopft. Die Nacht | |
reparierte den Tag. | |
Und es krakeelten immer mehr Trunkene. Neben der Zeit der Erholung brach | |
mit der blauen Stunde nun auch die der Zerstreuung an: Durch geregelte | |
Feiertage und Arbeitszeiten gab es einfach mehr Zeit. Die Kneipe war für | |
die, die nicht drin waren, eine Lärmquelle. Gerade für die Arbeiterklasse | |
aber war sie Zuflucht vor der ungemütlichen Mietskaserne – Ruhepol und | |
Wohnzimmer der Stadt. Und doch: Die Probleme der Moderne, die Gosse, Armut | |
und Prostitution, waren im Dunkeln nicht nur besser zu sehen. Nachts konnte | |
man sie auch noch besser hören. | |
Die Zeit der Industrialisierung, erzählt der Historiker Achim Landwehr, | |
verquickte die Moral der nächtlichen Ruhe mit der Ökonomie: Nächtliches | |
Saufen und Arbeiten schicken sich nicht. Während die italienischen | |
Futuristen den neuen Großstadtlärm zur Musik erhoben, fürchtete das | |
aufklärerische Bürgertum die Selbsthingabe der Massen und ersann, sie aus | |
ihrem selbst verschuldeten Elend zu befreien – besser als Wirtshäuser | |
sollten sie Bibliotheken füllen. | |
Bald wurde Akustik zur physikalischen Wissenschaft, seit den zwanziger | |
Jahren wird der Schalldruckpegel in Dezibel gemessen. Die New Yorker | |
Lärmbekämpfungskommission stellte fest, dass Autos gar nicht lauter waren | |
als die Fuhrwerke der Pferde, die fortan in Gummischuhe schlüpfen sollten. | |
Mit den Messverfahren waren Geräusche des Alltags nicht mehr nur „soziales | |
Gefühl“, wie es der Anthropologe Michel Massmünster ausdrückt. Die | |
scheinbare Objektivität hatte allerdings ihre Tücken, denn Wahrnehmung | |
lässt sich nicht bemessen: Leise Musik kann je nach Geschmack und Stimmung | |
mitunter mehr nerven als laute. Erst im Kopf wird ein Geräusch zu Lärm. | |
Im April 1944 gab der NS-Reichsarbeitsminister Franz Seldte die DIN 4109 | |
für den „Schallschutz im Hochbau“ bekannt, welche ausführte: | |
„Lärmeinwirkungen können die Gesundheit der Menschen schädigen und ihre | |
Leistungsfähigkeit herabsetzen. Deshalb muss der Mensch in seiner Wohnung | |
vor Lärmeinwirkungen möglichst geschützt werden.“ | |
Wohl erwartete das deutsche Ingenieurwesen bereits die Wohnungsnot nach dem | |
Weltkrieg, bei der man gleich auch die Schalldämmung mitbedenken könne. Die | |
neue Norm setzte für den Wiederaufbau schlechtere Standards, als sie | |
allgemein noch in den 30er Jahren galten; und so ist das erforderte Maß der | |
Schalldämmung für Wände seitdem gar um ein Dezibel auf heute 53 dB | |
gesunken. | |
Ingenieure beklagen bis heute, dass die Baunorm ihre Forderung nach | |
„ausreichendem“ Schallschutz immer weiter aufgeweicht habe und das Gesetz | |
stattdessen auf das Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme setzt. Die | |
Landes-Immissionsschutzgesetze gebieten meist eine Nachtruhe von 22 bis 6 | |
Uhr; gegenüber dieser unmissverständlichen Zeitspanne holpert aber die | |
Erklärung, was ihre Störung eigentlich ausmacht. In Rechtsauslegungen | |
findet man Begriffe wie „zumutbarer“ und „vermeidbarer“ Lärm, das Rich… | |
ist hier gar das menschliche „Durchschnittsempfinden“, ergo das der | |
verständigen Bürger. | |
Erst solche Regelungen, sagt Massmünster, geben ein Gefühl des Rechthabens | |
und schaffen eine kulturelle Selbstverständlichkeit, sich vom Umgebungslärm | |
gestört zu fühlen. Das Problem ist, dass sich bei solchen Regeln alle | |
Parteien im Recht sehen: Menschliches Empfinden lässt sich gerichtlich | |
nicht abstreiten. | |
## Umkämpft wie zur Jahrhundertwende | |
Die Nachtruhe und der Lärm sind heute so umkämpft wie zur Jahrhundertwende, | |
meint Massmünster. Dabei rücke das Laster in den Hintergrund, hervor treten | |
Gesundheit und Chronobiologie: Man geht heute nicht mehr unbedingt dann ins | |
Bett, wenn man müde ist, sondern achtet darauf, acht Stunden zu schlafen, | |
weil das als gesund gilt. | |
Zwar poltern die Gelehrten nicht mehr gegen den Pöbel, aber Lärm ist immer | |
noch einer der heftigsten sozialen Konflikte: Vorabendserien gegen | |
Hundegebell, die Lauten und Schrillen gegen jene, die noch zwischen privat | |
und öffentlich trennen, Touristen gegen Einwohner, Familien gegen | |
Studierende, 9-to-5-Angestellte gegen die Rock Clock der Kreativwirtschaft, | |
Flughafenanwohner gegen Flughafenbetreiber. | |
Theodor Lessing hatte infolge seiner „Kampfschrift gegen die Geräusche | |
unseres Lebens“ den Deutschen Lärmschutzverband gegründet. Trotz immerhin | |
gut 1.000 Mitgliedern – meist Literaten, Künstlerinnen, Ärzte und | |
Juristinnen – konnte er das „Recht auf Stille“ nicht durchsetzen und wurde | |
schon 1914 aufgelöst. | |
Heute fühlen sich laut Umweltbundesamt nur 32 Prozent der Menschen in | |
Deutschland in ihrem Wohnumfeld nicht von Lärm belästigt. „Im Feld des | |
Unbewussten“ ist das Ohr „die einzige Öffnung, die sich nicht schließen | |
lässt“, wie der Psychoanalytiker Jacques Lacan schrieb; und doch ist volles | |
Verständnis für das eigene Leiden bis heute schwer zu erlangen. | |
Die akustische Forschung kann zwar Pegel bemessen und in Lärmkarten | |
notieren, aber nicht die nervliche Belastung des Scharrens zweier Messer | |
oder eines Schleudergangs um 2 Uhr früh. Derweil stolpert die gesetzliche | |
Synchronschlafenszeit von 22 bis 6 Uhr über die Realität der unsynchronen | |
Lebensentwürfe. | |
Vielleicht würde es helfen, Lärm wieder als soziales Gefühl anzuerkennen. | |
Auf der Dresdner Hygiene-Ausstellung 1911 hatte der Medizinalrat Robert | |
Sommer „öffentliche Ruhehallen“ für die Städte vorgestellt, samt | |
Eintrittsgebühr und Betreuungspersonal. Solche akustischen safe spaces für | |
die Müden sind sicher eine gute Idee. Aber dann müsste es die auch für | |
Waschmaschinen, Liebemachende und Nachteulen geben. | |
8 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Fabian Stark | |
## TAGS | |
Lärm | |
Ruhe | |
Schlaf | |
Wahrnehmung | |
Urbanität | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schlaf | |
Lärm | |
Autos | |
Klassische Musik | |
U-Bahn Berlin | |
Umweltbundesamt | |
Lärm | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Historikerin über vergesellschaftete Nachtruhe: „Wir schlafen nicht zum Verg… | |
Der Schlaf erscheint uns heute äußerst privat, sagt die Historikerin Hannah | |
Ahlheim – aber Ruhe und Erholung sind gesellschaftliche Ressourcen. | |
Studie über Lärm im Alltag: WHO will das Leben leiser machen | |
Die Weltgesundheitsorganisation hat neue Richtwerte für Lärm herausgegeben. | |
Ein Appell an Politik und Wirtschaft: Es soll überall leiser werden. | |
Kolumne Fremd und befremdlich: Der Schwanz der Nation | |
Autoposer sind Leute mit aufgemotzten Autos und dem Horizont eines | |
Fünfjährigen. Es würde keine Autoposer geben, wenn die Leute nicht so | |
neidisch auf sie wären. | |
Wahrnehmung von Musik: Bis das letzte Haar steht | |
Warum macht bestimmte Musik uns Gänsehaut? Hörbiografie und Gene spielen da | |
zusammen, erklärt der Mediziner Eckart Altenmüller. | |
Kommentar Sozialdruck in Deutschland: Benehmt euch – oder bleibt zuhause! | |
Deutschland geht es gut. Finden viele. Alles Quatsch. Der soziale Druck | |
nimmt zu – und damit auch die Rücksichtslosigkeit. | |
Gesundheitsschädlicher Lärm: Brummen kann gefährlich werden | |
Dröhnende Geräusche technischer Anlagen können die Gesundheit schädigen. | |
Das ist sogar bei nicht hörbaren Tönen der Fall. | |
Lärm und Gesundheit: Flugzeuge im Herz | |
Dauerbeschallung steigert das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und | |
Depressionen. Insgesamt schadet Lärm aber weniger als angenommen. |