| # taz.de -- Kommentar Sozialdruck in Deutschland: Benehmt euch – oder bleibt … | |
| > Deutschland geht es gut. Finden viele. Alles Quatsch. Der soziale Druck | |
| > nimmt zu – und damit auch die Rücksichtslosigkeit. | |
| Bild: Erst aussteigen lassen, nicht ins Handy brüllen, Älteren den Sitz über… | |
| Deutschland geht es gut. Sehr gut. Spitzenmäßig. Es geht nicht allen in | |
| Deutschland gut, wendet Kanzlerkandidat Martin Schulz ein, aber es sollte | |
| bald allen etwas besser gehen. Nein, beharrt der liberale Spitzenkandidat | |
| Christian Lindner, es war noch nie so geil wie heute. Alles ist gut und | |
| wird immer besser, bald fahren nur noch leise schnurrende E-Autos durch die | |
| Straßen, die EU kann sich endlich von den „fossilen Mächten“ verabschiede… | |
| das Renteneinstiegsalter wird auch nicht steigen. Alles ist super, sagt | |
| Christian Lindner und steigt zu dem Moderator und gelernten Friseur Klaas | |
| Heufer-Umlauf in einen gelben Porsche, der mit ihm durch Berlin-Mitte düst. | |
| Spitzenidee eigentlich, man holt den Chef der FDP so superironisch mit | |
| einem gelben Porsche ab und röhrt mit ihm durchs Regierungsviertel. Zu | |
| sehen war das am vergangenen Montagabend bei einem Privatsender. | |
| Am Dienstagmorgen steige ich am Hermannplatz in Berlin-Neukölln in eine | |
| überfüllte U7. Auf dem Weg dahin wurde ich locker zweimal angerempelt, | |
| genauso oft angebettelt und musste noch öfter blind im Weg stehenden | |
| Teenagern ausweichen. Und nein, ich will jetzt keinen neurechten | |
| Sozialphobie-Rant daraus machen. Aber die Alles-ist-gut-These hält | |
| irgendwie dem Realitätsabgleich einfach nicht Stand. | |
| Deutschland geht es nämlich nicht gut. Vielleicht wäre es die bessere Idee | |
| gewesen, Herrn Lindner nicht mit dem Porsche abzuholen. Sondern ihm eine | |
| Tageskarte der BVG zu kaufen und mit ihm mal so eine kleine Rundfahrt durch | |
| den Berliner Untergrund vorzunehmen. Ob er danach auch noch die Rede vom | |
| geilen Deutschland geschwungen hätte? | |
| Tatsächlich sieht es doch so aus: Der soziale Druck in der Hauptstadt – | |
| aber auch anderswo – wird immer stärker. Die Schere zwischen Arm und Reich | |
| klafft weiter auseinander. Der Grad an Verwahrlosung – okay, das mag ein | |
| subjektiver Eindruck sein – ist in den letzten zehn Jahren noch einmal | |
| gestiegen, auch weil sich die Menschen die Mieten und | |
| Lebenserhaltungskosten immer weniger leisten können. | |
| ## Zielpunkt für alle | |
| Dazu kommen weitere Probleme: Berlin ist ein Zielpunkt für alle, nicht | |
| nur für die kulturflüchtende Jugend West- und Ostdeutschlands, das | |
| arbeitsuchende südeuropäische Proletariat, das kunstschaffende und | |
| illusionsanfällige internationale Prekariat oder für die, die mal Pause von | |
| New York oder London machen wollen, sondern – im Wortsinn – für alle. Für | |
| Touristen und Geflüchtete, für Geschäftsleute, Klassenfahrtler, Aussteiger, | |
| Spekulanten, Reisebusrentnerinnen, Medienproletarier, Angestellte. Dann | |
| wären da noch die Reste der abgehängten Westberliner Arbeiterklasse, die | |
| immer schon hier waren, die, die vor und nach dem Mauerfall nicht in den | |
| Westen „rübermachten“, und die, die in den sechziger Jahren gekommen sind … | |
| und deren Kinder und Kindeskinder. | |
| Das bedeutet: Wo alle sind, steigt der Sozialdruck, oder, um einen Begriff | |
| zu benutzen, der an dieser Stelle auch schon fiel, aber damals eher dem | |
| rechten Diskurs zugerechnet wurde: der Dichtestress. | |
| Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich froh über diesen Begriff, der ursprünglich | |
| aus der Biologie kommt, aber auch soziologisch benutzt wird. Es ist | |
| tröstlich, wenn eine Gesellschaftswissenschaft etwas zu erklären vermag, | |
| was vorher nur so ein latentes Gefühl war, für das man sich auch ein wenig | |
| schämte: Denn wenn man als links empfindender Mensch doch eins nicht sein | |
| will, dann spießig. Und an der lauten und irgendwie asozialen (im Sinne | |
| von: un-sozialen, nämlich egoistisch getriebenen) Stadt zu leiden, das gilt | |
| oft immer noch als genau das: spießbürgerlich. | |
| Aber das muss aufhören. | |
| Dichtestress, sagt das „Lexikon der Biologie“, bezeichnet „psychische | |
| Belastungen durch zu viele Individuen pro Fläche …, die sich sowohl im | |
| Verhalten auswirken (…) als auch körperliche Folgen … zeigen“. Und: „M… | |
| steigender Personendichte nehmen beim Menschen Kindersterblichkeit, | |
| Geschlechtskrankheiten, Tuberkulosefälle, Selbstmordrate, | |
| Jugendkriminalität und Geisteskrankheiten zu.“ | |
| ## Die Rücksichtslosigkeit ist das Problem | |
| Totschlagargument der Gegenseite: „Dann zieh doch aufs Land!“ Äh, nee. Es | |
| muss doch auch so gehen! | |
| Der Sozialdruck, der Dichtestress, ist an sich nämlich nicht einmal das | |
| Problem. Das Problem ist, dass dieser Stress erst dann richtig unangenehm | |
| wird, wenn die Menschen nicht gegenarbeiten, sondern ihn noch befeuern: | |
| Indem sie weiter munter rücksichtslos sind. | |
| Das hat natürlich auch Tradition, gerade in Berlin. Die Öffentlichkeit als | |
| Bühne, die man sonst nicht hat. Der liberale Hausgeist, der seit ungefähr | |
| den siebziger Jahren durch diese immer schon besondere Stadt spukt. Das | |
| Versprechen des Individualismus. Und der Frustabbau durch Renitenz und | |
| Widerstand, egal wem und egal was gegenüber. Der lange auch von links | |
| gepflegte Nonkonformismus, der eben auf soziale Regeln scheißen wollte, | |
| weil die als bürgerlich galten. | |
| Dabei kann es so einfach sein. | |
| Sei leise. | |
| Sei höflich. | |
| Belästige niemanden. | |
| Links gehen, rechts stehen. | |
| Erst aussteigen lassen, dann einsteigen. Nicht einfach den Müll fallen | |
| lassen. Wenn ich Musik hören will, gehe ich ins Konzert. Und: Bei anderen | |
| sozial Schwachen betteln macht auch keinen Sinn. | |
| ## Zwangstelefonate | |
| In besagter U7 sitze ich einem Mann gegenüber, der eine schmutzige | |
| Jogginghose trägt; er isst chinesisches Fastfood aus einer Pappschachtel | |
| und macht Drohanrufe gegenüber Unbekannten, die gefälligst aufhören sollen, | |
| ihn anzurufen. | |
| Die meisten Passagiere suchen Schutz in der Dunkelheit der Fenster, den | |
| Leuchtflächen ihrer Telefone, den bedruckten Seiten ihrer Bücher. | |
| Es ist nur irgend so ein Beispiel. Jeden Tag findet sich ein anderes hier | |
| in Berlin, und ich schätze, dass es in Köln oder Düsseldorf, in Hamburg | |
| oder Stuttgart nicht viel anders läuft. Es ist auch kein Problem, das sich | |
| nur auf den ÖPNV bezieht. | |
| Man kann sich genau so gut den überirdischen Straßenverkehr anschauen: ein | |
| Raum allgemeinen Frustabbaus. Motorisierte Gewalt. Menschen, die gleich auf | |
| die Palme gebracht sind, weil andere Fehler machen (dabei sind Fehler | |
| menschlich, und es gibt niemanden, der keine macht). Dann schreien sie von | |
| der Palme herunter, statt erst mal runterzukommen. | |
| Noch mal das „Lexikon der Biologie“: „Um den Begegnungsstress zu | |
| reduzieren, haben sich Mechanismen der Nichtbeachtung entwickelt.“ Das kann | |
| es aber nicht sein. Weggucken, alles wegignorieren, was stört, das ist | |
| höchstens die halbe Lösung. Es geht um den Raum, den man mit anderen teilt. | |
| Erst an die anderen denken, dann an sich selbst. | |
| Schlecht benehmen kann man sich zu Hause. | |
| 18 Sep 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| René Hamann | |
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