# taz.de -- Debatte Merkels Regierungsstil: Die Jahre der Räuberin | |
> Bei der Wahl geht es um nichts mehr? Wähler haben keine Optionen mehr? | |
> Wer das denkt, hat das System Merkel noch immer nicht verstanden. | |
Bild: Angela Merkel: Erst verschwommen, dann greift sie zu | |
Gerade wird es schick zu sagen, dass es bei der Bundestagswahl um nichts | |
mehr geht. Gibt doch ohnehin kaum Unterschiede. Hat doch niemand Charisma. | |
Gewinnt doch eh Merkel. | |
Brandt tot, Schmidt tot, Kohl tot. Strauß tot, Wehner tot, Fischer Rentner. | |
Luft raus. | |
Genau dies ist eine Diskussion auf Abwegen. Demokratie funktioniert nicht | |
so, dass man sich doof stellt; man muss schon mitdenken. Denn nur weil der | |
SPD-Kandidat nicht reden kann wie Perikles und Angela Merkel sich so | |
fröhlich feiern lässt wie vor vier Jahren, heißt das nicht, dass nichts | |
möglich ist. Die große Frage ist die Frage der Koalitionen. | |
Nehmen wir mal an, die Kanzlerin würde tatsächlich noch einmal gewählt, | |
dann hätte eine neue Regierung je nach Partner sehr unterschiedliche | |
Tendenzen. CDU ist CDU. Und CSU ist CSU und manchmal noch schlimmer. Aber | |
trotzdem bekämen wir immer eine etwas andere Merkel, schon weil sie für | |
jede Tendenz etwas übrig hat. Die SPD würde den sozialstaatlichen Akzent | |
der vergangenen vier Jahre erhalten, den die CDU-Chefin gerade im Wahlkampf | |
so gern für sich verwendet. Die FDP würde die Wirtschaftsliberale Merkel | |
hervorkehren, der Deutschland angesichts des globalen Wettbewerbs schon | |
lange zu weinerlich ist. Und die Grünen würden aus ihr, Tochter eines | |
Ökopfarrers, vielleicht doch noch eine Klimakanzlerin machen. | |
## Mal Gemeinderätin, mal Grenzbeamtin | |
Auch wenn diese Frau so unerschütterlich fest hockt in ihrem Amt: In ihren | |
Positionen ist sie vergleichsweise leicht zu bewegen. Ihren Vorgänger | |
Gerhard Schröder mussten die Grünen in der rot-grünen Koalition zu vielen | |
progressiven Positionen drängen. Davor quengelte die FDP bei Helmut Kohl, | |
damit dieser doch wenigstens ein bisschen die Sozialsysteme schröpfte – | |
ziemlich vergeblich allerdings. Hingegen hat Merkel eine Methodik | |
entwickelt, wichtige Projekte der Konkurrenz zu übernehmen. Position halten | |
oder ändern – das beurteilt sie völlig kühl. Merkel macht, was ihre Macht | |
sichert. | |
Sie wechselt ihre Gesichter. Mit dem Lächeln einer Kirchengemeinderätin | |
begrüßt sie Flüchtlinge, um später mit der Strenge einer Grenzbeamtin über | |
die Abschiebung zu sprechen. Ihr Satz „Sie kennen mich“ aus dem vergangenen | |
Wahlkampf war ein Witz angesichts einer Frau, die für fast alles stehen | |
kann und dann wieder fürs Gegenteil. | |
Man konnte ihre Methodik zuletzt Ende Juni an der Entscheidung über die Ehe | |
für alle studieren. Merkel hat die bisherige Grundsatzfrage der Union, ob | |
Schwule und Lesben heiraten dürfen, sehr bewusst [1][zu einer individuellen | |
Gewissensentscheidung erklärt]. Die SPD setzte das Gesetz | |
geistesgegenwärtig auf die Tagesordnung. Aber egal, ob Merkel die schnelle | |
Verabschiedung des Gesetzes noch vor der Wahl einkalkuliert hatte oder von | |
der SPD überrumpelt wurde: | |
Den Schritt zur Gewissensentscheidung entschied die Kanzlerin sehr bewusst | |
und planvoll. Sie gab den Widerstand gegen die Gleichstellung auf, weil er | |
ihr machtpolitisch nichts mehr brachte. | |
Ihre Beweglichkeit konnte man auch beobachten, als sie Ende 2016 der CSU in | |
der Flüchtlingspolitik nachgab. Horst Seehofer musste nur lange genug Chaos | |
in der Union stiften und für seine CSU vergleichsweise gute Umfragewerte | |
holen, damit Merkel den verbalen Kotau vollzog. Wenn sich sogar eine viel | |
kleinere, eigentlich zu einem Mindestmaß an Solidarität verpflichtete | |
Schwesterpartei so durchsetzen konnte – wie groß ist dann erst das | |
Potenzial eines Koalitionspartners? | |
Sie schenkt nichts her. Man muss eine Kampagne entfachen, die anhaltenden | |
Lärm erzeugt und Zustimmung bei vielen Bürgerinnen und Bürgern erfährt. | |
Dann raubt sich Merkel das Thema. Als ob jemand etwas klaut – und | |
anschließend überall erzählt, wie wichtig und sinnvoll diese Aktion war. | |
## Nicht immer wurden gute Gesetze daraus | |
Doch hat nicht gerade Merkel noch jeden Juniorpartner kleinregiert? All die | |
Steinmeiers und Becks, die Rößlers und Brüderles, die Gabriels und, ja, | |
sogar in nur wenigen Monaten Martin Schulz? Klar, aber das ist das Problem | |
der Parteien, nicht das der Wähler. Sie hat die Konkurrenz dadurch | |
geschrumpft, dass sie ihnen die Themen genommen hat. | |
Allerdings muss man sagen: Nicht immer hat Merkel aus den gekaperten | |
Projekten gute Gesetze gemacht. Manchmal hat sie die Projekte ihrer Partner | |
in den Regierungskompromissapparat eingespeist, wo sie für immer | |
verschwanden. Die großen Steuerpläne der FDP gehören dazu. Andere Vorhaben | |
hat Merkels Maß-und-Mitte-Maschine so verunstaltet, dass sie am Schluss | |
wirkungslos wurden. Die Mietpreisbremse ist so ein Fall. | |
Aber es gibt auch Fälle wie den Mindestlohn. Als die Kampagne erdrückend | |
erfolgreich war, gab Merkel gern nach. Heute lobt sie sich für den | |
Mindestlohn, den sie lange verhindert hatte. Der Frauenquote stimmte sie | |
nach Jahren zu; sie gilt nur für Aufsichtsräte und auch bloß in | |
Großunternehmen. Aber sie machte das Thema zu ihrem. | |
Der Extremfall ist der Atomausstieg, eine Forderung, die durch die | |
Katastrophe von Fukushima den ultimativen Schub bekam. Merkel wurde | |
Atomkraftgegnerin und die Grünen um ein Thema ärmer. Aus all diesen | |
Forderungen wurde nur etwas, weil Merkel sie umsetzte. Nur mit den Urhebern | |
der Forderungen ging es bergab. Anders gesagt: Merkels Methodik schadet den | |
anderen Parteien. Aber immer wieder hilft sie am Ende auch richtigen | |
Projekten. | |
Damit stehen die Wählerinnen und Wähler bei der Bundestagswahl ganz und gar | |
nicht ohne Optionen da. Leider stellen sich nicht nur viele von ihnen dumm, | |
sondern auch Merkels potenzielle Partner. Gerade Grüne und FDP reden sich | |
gern groß mit dem Ziel, hinter Union und SPD den dritten Platz zu | |
erreichen. Aber gemessen an dem, was möglich wäre, bieten die kleinen | |
Parteien im Wahlkampf eine große Leere. Sie müssen Merkel die Themen | |
aufdrängen. Sie sollten sie so erfolgreich inszenieren wie die SPD-Kampagne | |
zum Mindestlohn oder die Ehe für alle. Dann kommt es nur noch auf die | |
Situation an, bis die Räuberin zugreift, ganz offen, ganz frech, ganz | |
selbstverständlich. | |
6 Sep 2017 | |
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## AUTOREN | |
Georg Löwisch | |
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