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# taz.de -- Doku-Fantasy über Sylt im Jahre 2050: Ach, Sylt!
> Zu viele Touristen mit zu vielen Autos verbrauchen zu viele der knappen
> Ressourcen. In „Syltopia“ gipfelt das in einer Revolution und endet
> versöhnlich.
Bild: Ein bisschen wahnsinnig: Das Appartementhochhaus in Westerland steht für…
SYLT taz |Wer ist hier eigentlich total durchgeknallt, der Autor oder die
Insel, Lothar Koch oder Sylt? „Total durchgeknallt: Revolution auf der
Insel“ lautet der Untertitel der Doku-Fantasy „Syltopia“, die er über das
Sylt des Jahres 2050 geschrieben hat. Über ein Sylt, das sich selbst neu
erfunden hat, das sich gerettet hat vor dem Untergang in Touristenströmen,
Autokolonnen und nach oben offenen Preisspiralen. Über ein Sylt, das die
Wandlung geschafft hat von „Deutschlands dümmster Insel“, wie die
taz-Wahrheit das nordfriesische Eiland gern nennt, zu einer
Öko-Modellinsel.
Und eben über ein Sylt, das Lothar Koch so sehr liebt, dass er es
vernichten muss, um es neu erschaffen zu können. „Ich bewege mich in einer
Umwelt, für die es sich zu kämpfen lohnt, ich bin auf Sylt genau am
richtigen Platz“, sagt Koch. „Der Einsatz für das Meer und die grandiose
Insel-Landschaft lohnt sich: wegen der Natur, dem Wind, der Frische, der
Klarheit – das motivierte mich, ‚Syltopia‘ zu schreiben.“
Zerstören, um neu zu entdecken, muss auch Hanna, die Hauptfigur seines
Romans. Als 18-Jährige, nach dem Abi, ist sie von der langen, schmalen Düne
der Schönen und Reichen geflohen, hat sich in der Welt herumgetrieben.
Schließlich lebt sie als Journalistin in New York – und kehrt nach über
drei Jahrzehnten zurück für eine Reportage über eine Öko-Insel, die
weltweit Aufsehen erregt. Hanna kehrt zurück in eine Heimat, die ganz
anders ist, als sie es in Erinnerung hat, fremd und faszinierend zugleich
und in vielem dem ähnelt, was sich der frustrierte Teenager damals
gewünscht hätte.
„Syltopia“ ist keine heile Welt, die einem geschenkt wird, es ist ein
Selbsterkenntnisprozess. Der Roman beschreibt auf unterschiedlichen Ebenen
die persönliche Transformation von Hanna und zugleich die Transformation
einer Gemeinschaft. Es ist ein individueller und ein gesellschaftlicher
Reifungsprozess zugleich, angelehnt an „Utopia“ von Thomas Morus.
Der beschrieb 1516 eine ideale Gesellschaft auf einem fiktiven Inselreich
mit Bildung für alle, religiöser Toleranz und Gemeineigentum an Grund und
Boden – ein unmissverständlicher Gegenentwurf zum damaligen England unter
König Heinrich VIII., der Morus letztlich den Kopf kostete.
So dramatisch wird es für Lothar Koch kaum enden, zumal er ein
unerschütterlicher Optimist ist. „Ich glaube daran, dass man was verändern
kann. Ich vertraue immer noch der Fantasie und der Vielfarbigkeit von
Bewegungen, glaube an das Bunte, das dem Grau gegenübersteht“, sagt Koch
auf der Caféterrasse in Westerland mit Blick auf Wellen und Wellenreiter.
„Das ist wohl meine Konditionierung aus der Anti-Atom-Bewegung der
80er-Jahre“, vermutet der 57-Jährige.
Auf der ostfriesischen Insel Juist ist Koch aufgewachsen, auf der
nordfriesischen Insel Sylt lebt er seit Mitte der 1980er-Jahre. Der
Meeresbiologe leitete mehr als ein Jahrzehnt lang die Schutzstation
Wattenmeer, die in den Debatten um den Nationalpark vor der
schleswig-holsteinischen Westküste eine gewichtige Rolle spielte.
Auseinandersetzungen waren das, die zeitweise Kriegen ähnelten, und die
letztlich erst vor zwei Jahren im sogenannten „Muschelfrieden“ zwischen
Politik, Umweltschutz und Fischern beigelegt wurden.
So was kann schlauchen, und vor zehn Jahren war Lothar Koch nach eigenen
Worten so ausgebrannt, dass er den Job hinschmiss. Meditations- und
Yogalehrer ist er jetzt, aber mit einem Rückzug ins Private habe das nichts
zu tun: „Ich habe versucht, zwei Seiten meiner Biografie zusammenzubringen:
den Aktivisten der Umweltbewegung und den Meditations-Coach“, sagt Koch.
„Auch wenn manche finden, dass so etwas nicht zusammengeht.“
Bei Koch indes, der sich zudem als Blogger und grüner Lokalpolitiker
betätigt und einen Sylter Naturreiseführer geschrieben hat, geht das
zusammen, und in seinem Science-Fiction-Roman ebenfalls. Da wird einerseits
viel meditiert, es gibt einen weisen Medizinmann und einen Zaubertrank aus
dem brasilianischen Regenwald.
Andererseits kam es getreu der Erkenntnis von Karl Marx, dass
gesellschaftliche Entwicklung sich in Sprüngen vollzieht, zu einer
Revolution auf der Insel, die in der Sprengung des Hindenburgdamms
gipfelte: Mit der Kappung der Nabelschnur zum Kontinent wurde Sylt wieder
zur Insel und erschuf sich neu unter dem Motto „Rückschritt ist
Fortschritt“.
Und der bringt nicht nur Hanna zum Staunen. Solarbetriebene Zeppeline gibt
es hier, eine Art Magnetschwebebahn als Nahverkehrsmittel, Windanlagen, die
ökologischen Wasserstoff erzeugen und ein Nobelrestaurant namens „Nosch“,
das allerlei gesunde Leckereien aus Algen auf der Speisekarte hat.
Technisch wäre das alles machbar, oft ist es bereits jetzt in der
Erprobung, weiß Koch. Aber selbst wenn nicht, dann sind das legitime und
mitunter satirische Produkte seiner künstlerischen Freiheit genauso wie die
Meditationspyramide an der Stelle, wo früher die „Sansibar“ stand.
Auf Sylt leben 18.000 Einwohner, hinzu kommen eine Million Touristen, in
der Sommersaison bis zu 120.000 Gäste gleichzeitig. Sie kommen mit fast
600.000 Autos und verbringen rund sieben Millionen Nächte auf der Insel.
Die Immobilien- und Mietpreise auf Sylt sind die höchsten in Deutschland,
Ur-Sylter ziehen aufs billigere Festland und pendeln zur Arbeit auf die
Insel zurück. Das ist die Situation heute, das war die Situation, als die
Revolution ausbrach. „Es geht in der Realität und im Buch um die Frage nach
den Grenzen des Wachstums“, sagt Koch.
Zur Hälfte steht die Insel unter Natur- oder Landschaftsschutz, zugleich
hütet Sylt über die Hälfte der verbliebenen Heideflächen
Schleswig-Holsteins – das Land ist endlich, andere Ressourcen sind es auch.
Sein Trinkwasser gewinnt Sylt aus 16 Brunnen aus einer Süßwasserlinse unter
dem Geestkern. Höchstens 2,8 Millionen Kubikmeter Wasser pro Jahr können
nach Aussagen der Energieversorgung Sylt (EVS) gefördert werden, aktuell
sind es bereits 2,5 Millionen Kubikmeter. Der Wasserbedarf könne für die
nächsten fünf Jahre gedeckt werden, so die EVS, „sofern keine neuen
Hotelbauten oder andere Großverbraucher hinzukommen“: Ende der
Fahnenstange.
Und aus dieser Gegenwart heraus entwirft einer die Idee eines neuen Sylt,
ohne Märchenonkel sein zu wollen. „Schützen heißt konservieren und
erhalten, aber nicht rückwärtsgewandt zu sein“, sagt Koch. Bewährtes
erhalten und es mit dem Sozialen und Nachhaltigen der modernen Entwicklung
verbinden, das sei das Thema. So locke der zunehmende Event-Tourismus vor
allem Kurzzeitgäste, die nicht an den eigentlichen Werten Sylts
interessiert sind: Meer, Natur, Entspannung, Gesundheit.
Lothar Koch vermittelt den Eindruck eines Mannes, der mit sich im Reinen
ist. Der aus seinem esoterischen Ich die Kraft für sein gesellschaftliches
und politisches Ich schöpft. Und der von seinen Träumen von einer besseren
Welt nicht lassen will und kann, selbst wenn er sie auf eine 99
Quadratkilometer kleine Insel im Wattenmeer beschränken muss. „Man braucht
starke Visionen, damit sich etwas verändert“, sagt Koch: „Utopien sind
Antrieb.“
Um noch mal die Frage zu stellen: Wer ist hier eigentlich total
durchgeknallt, der Autor oder die Insel? Lothar Koch jedenfalls ist es
nicht.
.
1 Sep 2017
## AUTOREN
Sven-Michael Veit
## TAGS
Sylt
Schwerpunkt Utopie nach Corona
Fantasy
Nachhaltigkeit
Sylt
Sylt
Naturschutz
Dokumentation
Tourismus
Wohnraum
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