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# taz.de -- Die Wahrheit: Lob dem Bregen, Fluch dem Schwamm
> Die große Wahrheit-Sommer-Debatte über Organe. Folge 3: Das Hirn. Ein Pro
> und Contra zu dem lappigen Ding.
## Warum das Ding in unserem Kopf geliebt werden muss
So ein Gehirn ist eine famose Angelegenheit. Es ist wie ein wunderschöner
Kalif aus einem orientalischen Märchen. Es trägt den zauberhaften
wissenschaftlichen Namen Encephalon, liegt wohlumsorgt und geborgen in
seiner mit schimmernden Kristallen und duftenden Räucherstäbchen prachtvoll
ausgestatteten Schädelhöhle, wird von leise wehenden Hirnhäuten sanft
umhüllt und trägt ein bezauberndes und aufregendes Nervenkostüm mit ein
paar Säbeln im Gürtel und einem glitzernden Hut. Über seinem sachte
schwankenden Wasserbett wacht die gute alte Amme Schädelkalotte, um jedes
Ungemach von dem schönen Herrscher abzuwehren.
So liegt es also da, das wunderbare Encephalon, und lässt vermeintlich den
lieben Gott einen guten Mann sein. Aber weit gefehlt! Encephalon ist in
Gedanken unentwegt auf Achse, denn es hat, wie es die Berufung eines weisen
Monarchen ist, über den Rest des etwas unbedarften Sauhaufens seines Reichs
– den Körper – zu wachen.
Es hat sich sogar in Hälften geteilt, um seine Regierungsgeschäfte stets
akkurat und sorgfältig führen zu können: Die linke Hälfte passt auf die
rechte auf und umgekehrt. So kann gar nichts passieren. Und wenn doch mal
was geschieht und es zum Beispiel links und rechts verwechselt, dann räkelt
sich Encephalon drollig auf eine andere Seite und kann sich an nichts mehr
erinnern.
Schon der große Goethe schrieb als kleiner Knabe 1764 in sein Tagebuch:
„Das Haupt ist seinem Platze nach immer vorn, ist der Versammlungsort der
abgesonderten Sinne und enthält die regierenden Sinneswerkzeuge in einem
oder mehreren Nervenknoten, die wir Gehirn zu nennen pflegen.“
Das sagt ja wohl alles! Der anderthalb Pfund schwere Kalif schnippt nur
einmal kurz mit seinen Synapsen – und der ganze Körper überschlägt sich auf
der Stelle nach seinem Gusto: springt über Hürden, spült, rechnet mit
binomischen Formeln, schreibt Romane und Theaterstücke, erfindet
Dampfmaschinen und Mondraketen, zieht Präsidentschaftskandidaturen in
Erwägung, bewegt Muskeln und erklärt das Universum.
Kalif Hirn hat das zwar alles unter Kontrolle, weiß aber auch, dass er
selbst am besten bewegungslos in seinem Bett liegen bleibt, während der
Rest der Deppen seine Jobs macht, denn das Gehirn mag keine
Erschütterungen. Wer also auf der Welt sollte dieses sagenhafte Organ nicht
lieben können?
Aber ganz abseits von all diesen wissenschaftlichen Betrachtungen muss man
das Gehirn auch mal aus einer rein optischen Perspektive begutachten: Wenn
es nicht gerade in diversen Filmen durch Kopfschüsse an Wände spritzt, von
charismatischen Psychokillern mit Rosmarin und Thymian an feinen Saucen
verzehrt oder von hungrigen Zombies direkt aus dem aufgeschlagenen Kopf
gegessen wird, liegt es doch vor Kino- und Fernsehfreunden oft unverborgen
so hübsch, cremeweiß und gehirnmäßig in einem gerade geöffneten Schädel a…
irgendeinem Experimentiertisch eines Wahnsinnigen oder auf der
Arbeitsplatte eines ambitionierten Gerichtsmediziners, dass man nur
verzückt seufzen kann: „Es sieht aus wie … wie eine riesige Walnuss! O!
Schau mal, es zuckt noch! Ach, es zuckt gar nicht, ich zucke! Ich glaube,
es hat gerade die Kontrolle über meine rechte Hand übernommen! Es will,
dass ich mir mit einem Säbel die linke Hand abhacke und dabei einen Hut
trage … Autsch!!!“
Das Gehirn ist der absolute Boss, das ist ja wohl klar. Und es regelt seine
Geschäfte, wie es das für richtig hält. Super, Gehirn!Corinna Stegemann
***
## Warum das Ding in unserem Kopf gehasst werden muss
Eines Tages wird uns allen der Kopp runterknallen, weil das Hirn zu schwer
geworden ist – uns, die wir täglich terrorisiert werden von dem grauen
Schwamm da oben.
Schon morgens beim Zähneputzen nudelt das Dings los: To-do-Liste,
Wettercheck, Arbeitsplan, Geburtstagskalender, Einkaufsliste, Idealgewicht
plus komplizierte Erklärungen, warum es wieder nicht erreicht wurde. Alles
durcheinander. Und als Ohrwurm präsentieren wir heute dazu: Toccata und
Fuge d-moll. 24 Stunden lang, das kann Herr Hirn nämlich im Hintergrund
erledigen.
Wer sich beschwert, bekommt stattdessen „Atemlos“ serviert, „Happy“ oder
„Obladi-Oblada“. Dazu denkt es x-mal hintereinander: „Hätte ich bloß
gestern nicht diesen Quatsch online bestellt, dann könnte ich heute anderen
Quatsch online bestellen.“ Eine Mute-Taste für monströse Melodien und
gnadenlose Gedankenschleifen sind von unserem persönlichen Sklaventreiber
leider nicht vorgesehen.
Angeblich hat uns der olle Lappen ja wahnsinnig nach vorn gebracht, aber es
sollte uns zu denken geben, dass er sich weigert, sich komplett erforschen
zu lassen. Niemand kann zum Beispiel erklären, wie ein Ohrwurm entsteht –
warum? Weil das Hirn die Hirnforschung blockiert. Deshalb ahnt auch
niemand, dass sich das Denkorgan von kleinen weißen Hasen ernährt, um
größer und stärker zu werden, bis uns irgendwann der Schädel platzt.
Immer, wenn es Hunger hat, schaltet es uns offline, um sich mal wieder
unbemerkt ein niedliches Tierchen zu gönnen. Wir nennen es Schlaf, aber das
Hirn pennt nie. Hinterher überspielt es unsere Erinnerungslücken mit
Albträumen, in denen wir versagen, uns lächerlich machen oder von Mördern
verfolgt werden. Das Hirn kichert zufrieden und knabbert an einem pelzigen
Öhrchen. Ob ich das beweisen kann? Nun, die Zahl der weißen Hasen in
unserem Alltag nimmt bedrohlich ab.
Ohne Hirn, diesem Grundpfeiler des Kapitalismus, stünden wir alle besser
da: Müssten nicht nachrechnen, ob wir beschissen wurden, müssten keine
komplizierten Verdrängungsoperationen anstrengen, um zu vergessen, dass
wir schon wieder beschissen wurden, müssen nicht nachts aus dem Schlaf
hochschrecken, um herauszufinden, wie wir andere am besten bescheißen.
Tagsüber könnten wir ununterbrochen Katzenvideos gucken, weil das
bekanntlich ohne Zugabe von Hirnaktivität möglich ist.
Außerdem hätten wir endlich Platz im Kopf für Luft und Liebe. Auch die
Gesamtmenschheit wäre ohne Hirn im Vorteil – keine Atombomben, keine
Klimakatastrophenindustrie, keine Autos, kein Döner.
Noch benutzt uns das Hirn als willenlose Trägermasse, doch es arbeitet
bereits daran, endlich selbstständig agieren zu können. Das Hirn will
nämlich nicht mehr in der Welt herumkommen, und deswegen braucht es unsere
Füße nicht länger. Es hat schließlich Internet. Eines Tages wird es sich
direkt mit dem Smartphone verkabeln und uns wegfaulen lassen wie das Stück
Biomasse, das wir sind. In seiner Sprache heißen wir jetzt schon nicht mehr
Menschen, sondern „schimmelige Wischdaumen“. Aus den Gasen unseres gärenden
Fleischs wird es die Energie gewinnen, die es für das Handy benötigt.
Falls ihm ohne uns doch langweilig wird, weil es niemanden mehr mit seinem
Schallplattenschrank des Grauens quälen kann, wird es stattdessen den
Vibrationsalarm nutzen, um sich zu entspannen.
Schafft es endlich ab, bevor es uns abschafft! Susanne Fischer
29 Jul 2017
## AUTOREN
Corinna Stegemann
Susanne Fischer
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