# taz.de -- Die Wahrheit: Die Latte für immer höher gelegt | |
> Traumhaftes von der besten aller Ausstellungen, die auf das Konto von | |
> Wenzel Storch geht und sich zu Hannover abspielt. | |
Bild: Vom Iltis als WC benutzt? Das Schneckenschiff aus Storchs Film „Die Rei… | |
Ich saß im Zug nach Hannover und aß Schokolade. Ich hatte in meinem ganzen | |
Leben noch nie Hannover besucht und ein solches Abenteuer eigentlich auch | |
nicht eingeplant. Und dennoch ratterte ich plötzlich dieser Stadt, von der | |
ich von Kindesbeinen an geglaubt hatte, sie sei hauptsächlich von | |
zotteligen Gnus bevölkert, im ICE-Tempo entgegen. | |
Was war geschehen? Folgendes war geschehen: Ich hatte entweder im Traum | |
oder im Internet eine Anzeige entdeckt. | |
„Der beste Regisseur der Welt – Wenzel Storch, der Heilige Geist im | |
T-Shirt, die schlaksige Erinnerung an Rosenkranz, Weihrauch, Pickel und | |
komische Backfisch-Gefühle, dieser gottverdammt prächtige, umwerfend | |
komische und elendiglich poetische Mann, dieser Gott der Ausstattung – ist | |
in Hannover. Er eröffnet eine Ausstellung zu seinem Gesamtwerk. Zu | |
bestaunen sind Requisiten und Ausstattungsstücke aus seinen drei Filmen | |
‚Der Glanz dieser Tage‘, ‚Der Sommer der Liebe‘ und ‚Die Reise ins Gl… | |
Außerdem werden Dokumente einer nicht selten aberwitzig anmutenden | |
kirchlichen Körpermystik und der deutschen Pop- und Literaturgeschichte zur | |
Schau gestellt – Themen, die eine katholische Kindheit und Jugend in der | |
BRD der 1960er und 1970er Jahre zusammenhielten. Summa summarum: Wenzel | |
Storch, Das heiße Eisen der Erinnerung. 12. April bis 16. Juli 2017. Im | |
Sprengel Museum Hannover.“ | |
Ich war wie vom Donner gerührt, begab mich wie in Trance zum Bahnhof, | |
kaufte ein Ticket. Kurz vor Hannover verputzte ich die restliche | |
Schokolade. Dabei muss ich eingeschlummert sein, denn plötzlich öffnete | |
sich im Traum ein bestrickend schöner Raum vor mir. | |
Alles war vollgestellt mit Gerümpel, verstaubten Möbeln, schmutzigem | |
Geschirr, vergammelten Matratzen, undefinierbaren Geräten und seltsamen | |
Teppichen. Damenstrumpfhosen baumelten als Gardinen vor verschmutzten | |
Fenstern, sie schienen mit irgendetwas gefüllt zu sein, was aber nicht nach | |
Damenbeinen aussah. | |
Wie aus dem Nichts kam ein kleiner Junge, der ein altes Popfoto-Heft bei | |
sich trug, von irgendwoher und wies stumm auf einen Holztisch, auf dem | |
verschiedene Wurstsorten ausgebreitet lagen: Sülze, Leberwurst, Blutwurst, | |
auch Käse und altes Brot und eine angetrocknete Packung Fleischsalat lagen | |
herum. Und sogar ein Haufen Hackfleisch. | |
Der Raum fühlte sich für mich vertraut an, beinahe wie die Wohngemeinschaft | |
meiner Studentenzeit, doch mich interessierte eine andere Tür, eine Tür, | |
die halb im Verborgenen lag und aus deren Türschlitz ein irisierender Glanz | |
schimmerte. Ich stahl mich leise darauf zu und öffnete den Schlitz etwas | |
weiter. | |
## Wim Thoelke winkend | |
Was ich erblickte, verschlug mir beinahe den Atem: Ich dachte zuerst, es | |
wäre der Nachtwind, der den glitzernden See dort in Wellen legte, aber dann | |
sah ich, dass zwei Gestalten ein Haus, das ganz aus vergammelter Wurst | |
gebaut war, auf einem alten, speckig glänzenden Unterbett sanft zu Wasser | |
ließen und ihm noch lange nachsahen, während das seltsame Gefährt im | |
Mondlicht langsam einem ungewissen Schicksal entgegenfuhr. Ich wollte mich | |
gerade abwenden, als ein Schiff in der Form einer riesigen Schnecke | |
vorbeifuhr. Aus dem hell erleuchteten Schneckenhaus dröhnte Musik und | |
obendrauf saß Wim Thoelke und winkte mir zu. | |
Kaum war es meinem Blick entschwunden, versickerte der See und machte einer | |
bunten, skurrilen Landschaft Platz: Im milden Mondschein erblickte ich ein | |
üppiges Blumenmeer, angefüllt mit mannshohen prallen Fruchtstempeln, | |
schwellenden Stängeln und nickenden Kelchen. Ich traute meinen Augen kaum, | |
zwischen all diesen wundersamen Gewächsen hatte ein Priester ein Zelt | |
aufgeschlagen und Feuer entfacht. | |
Mit sechs Ministranten hatte er sich um das Feuer gelagert, das freundlich | |
vor sich hin knisterte. Ich schlich näher und hörte, wie der fromme Mann | |
den Buben mit gütigem Lächeln aus einem Buch namens „Peter legt die Latte | |
höher“ vorlas. Und während die Dreikäsehochs, die allesamt kurze Lederhosen | |
trugen, dem Geistlichen aufmerksam lauschten, bohrten sie unentwegt in | |
ihren kleinen Näschen und sammelten ihre Popel achtsam in einer hölzernen | |
Schatulle. | |
Meine Neugier war stärker als meine Zurückhaltung. Ich gesellte mich zu | |
ihnen und fragte, was es mit diesem Tun denn auf sich habe, und sie gaben | |
Antwort, mild und fromm: An einer Popelrallye wollten sie sich beteiligen, | |
bei der sämtliche Messdiener aus aller Welt all ihre gesammelten Popel zum | |
Papst nach Rom bringen wollten. „Was für ein verdammter Glückspilz, dieser | |
Papst!“, entfuhr es mir. Der Priester nickte wohlwollend und lud mich ein, | |
mich in seinem Zelt doch etwas umzusehen. Das brauchte er mir nicht zweimal | |
zu sagen. | |
Ich schlüpfte durch den Zelteingang – und vor mir tat sich ein gewaltiger, | |
heller Saal auf. Er war unfassbar prachtvoll eingerichtet. Die Frontseite | |
zierten große, edle Bilder mit aufwändigen goldenen Rahmen: Tierporträts, | |
die kunstvoll aus kleinen Perlen gefertigt waren, an den anderen Wänden und | |
den Säulen hingen bunte Poster, kleine und große Zeichnungen, Handschriften | |
und Ferkeleien, Monitore mit bunten Filmen und Schlagergesängen. Doch noch | |
bevor ich mir all diese Wunder genauer betrachten konnte, barst eine Tür | |
aus ihren Angeln und herein stürzte eine Horde von Menschen in teils | |
abenteuerlicher Bekleidung, angetan mit riesigen Ohrgehängen, goldenen | |
Brillen oder diamantbesetzten Lorgnetten. | |
## Die Glücklichen | |
Diese Menschen bevölkerten alsbald den Saal, drängten sich vor Bildern und | |
Postern, lasen schräge Comic-Geschichten und wiesen einander auf immer neue | |
Entdeckungen hin. Sie waren glücklich, kein Zweifel. Einzig vier ältere | |
Damen echauffierten sich armfuchtelnd über eine gezeichnete | |
Pornobriefmarke, die Erich Honecker beim Sex mit zwei Damen zeigte. Gerade | |
wollte ich ihnen meine Meinung dazu kundtun, als ein Quietschen und Ruckeln | |
mich aus dem Schlaf riss. | |
Der Zug hatte Hannover erreicht. Eilig sprang ich sogleich in ein Taxi | |
hinein, das mich in einem Affenzahn zum Sprengel Museum kutschierte. Und | |
wie staunte ich, als ich die Ausstellungsräume betrat. Alle Elemente, die | |
mein wirrer Traum mir vorgegaukelt hatte, fanden sich hier wieder und noch | |
viel, viel mehr, aber noch bunter, schräger und schöner. „Wie ist das | |
möglich?“, murmelte ich. Und: „Was für ein verrückter Zufall.“ Einzig … | |
schöne Schneckenschiff aus „Die Reise ins Glück“ fehlte, da es, wie Wenzel | |
Storch mit Bedauern verkündete, wohl von einem Marder oder Iltis als | |
Toilette benutzt worden war. Das war auf jeden Fall ein Tier mit Geschmack. | |
Diese Ausstellung – was für ein wunderbares Erlebnis. Hiermit gründe ich | |
die Kirche des Wenzel Storch. Geheiligt sei Wenzels Name! Sein Reich komme! | |
Amen! | |
18 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
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