# taz.de -- Die Wahrheit: Kurt und ich | |
> Ein Leben lang war einer neben mir. Ein aufwühlender Bericht von einem | |
> für mich unsichtbaren Begleiter, den alle anderen sehen konnten. | |
Bild: Juroren Christian Maintz, Peter P. Neuhaus, Thomas Gsella und Jurorin Cor… | |
Ich muss ungefähr drei Jahre alt gewesen sein, als mein imaginärer Freund | |
plötzlich im Kindergarten auftauchte. Na, das war ein Hallo! Alle anderen | |
Kinder und sogar die Kindergartentanten sprangen aufgeregt auf und ab, | |
klatschten in die Hände und bejubelten einen gewissen Kurt, der sich | |
angeblich in meiner Begleitung befand. Ich war völlig verwirrt, denn ich | |
hatte mir bisher nur ein weißes Pferd namens Pik Bube vorgestellt, von dem | |
ich aber wusste, dass es lediglich in meiner Vorstellung existierte. Dieser | |
Kurt jedoch war mir fremd, und ich konnte ihn auch nicht sehen. Alle | |
anderen aber schon. Ich konnte also alle anderen sehen, und alle anderen | |
konnten Kurt sehen. | |
Kurt hier, Kurt da – alles drehte sich stets um Kurt. Kurt war der Beste | |
beim Bauklötze stapeln, er konnte singen wie Orpheus, malen wie Picasso | |
(was ich übrigens auch konnte) und er hatte wohl stets ein nettes Wort für | |
unsere Mitkindergartenkinder. Einmal soll er sogar einen Maikäfer gefangen | |
und allen gezeigt haben – nur mir nicht. Ich lernte, den angeblichen Kurt | |
zu ignorieren. | |
Die Kindergartenjahre gingen vorüber, dann kam ich in die Schule – und | |
schon wurde Kurt wieder präsent. Die Lehrerin begrüßte mich beim Aufzählen | |
der Namen mit „Corinna & Kurt“, was mich nervte, aber ich meckerte nicht | |
gleich herum, weil ich nicht von Anfang an ein Außenseiter sein wollte. Ich | |
hatte Kurt ja noch nie gesehen und glaubte auch nicht an ihn! Aber alle | |
anderen sahen Kurt. Deshalb blieb auch der Platz in der Schulbank neben mir | |
immer frei. Denn dort saß wohl Kurt, der – wenn man den anderen glauben | |
wollte – diesen Platz für sich beanspruchte. | |
Auch auf dem Schulhof stand ich immer allein herum, weil die übrigen Kinder | |
mich komisch fanden, da ich Kurt verleugnete. Kurt warf derweil lustig mit | |
den anderen Steine auf die Turnhallenlaternen. | |
Die Jahre vergingen und vergingen, und ich wäre fast durch das Abitur | |
gefallen, weil Kurt irgendwo abgeschrieben haben soll. So genau ließ sich | |
das nie klären. Ich fing jedenfalls an zu überlegen, wie Kurt wohl aussähe. | |
Ich stellte mir eine Mischung aus Georg Gänswein und Johnny Depp vor, aber | |
diejenigen, die Kurt sahen, behaupteten, er sähe eher aus wie eine Mischung | |
aus Klaus Kinski und Stephen Hawking. | |
Aus meinem ersten Bewerbungsgespräch bin ich achtkantig hinausgeflogen. Ich | |
nehme an, dass Kurt dafür verantwortlich war. Der Betriebsleiter redete | |
anschließend kein Wort mehr mit mir. Jetzt wollte ich Kurt endlich auch | |
sehen, es war schon sehr gemein von ihm, dass er sich mir nie zeigte. Aber | |
ich hatte nicht den Hauch einer Idee, wie ich ihm eine Falle stellen | |
könnte. Ich versuchte es mit geheimen Spiegeln, Infrarotkameras und | |
Stolperdrähten, ich versprach sogar einem Geheimdetektiv Geld – alles ohne | |
Erfolg. | |
Draußen vor der Tür steht gerade ein trommelnder Schützenverein, der einen | |
Fahnenschlag für Kurt machen möchte. Ach, was soll’s? Während er den | |
Fahnenschlag genießt, hau ich einfach ab! Vielleicht findet Kurt mich auf | |
Haiti ja nicht! | |
18 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
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