# taz.de -- Die Wahrheit: Lob des Beutels, Fluch dem Sack | |
> Die große Wahrheit-Sommer-Debatte über Organe. Folge 6: Der Magen. Ein | |
> Pro und Contra zu dem rührigen Mahlwerk. | |
## Warum das Ding im Bauch geliebt werden muss | |
Unverzichtbar ist der Magen in dreierlei Hinsicht, gepriesen sei er in | |
jederlei! Denn erst der Magen macht aus Nahrung Ernährung. Er hat für | |
unsere Emotionen einen höheren Stellenwert als das Herz. Und es fällt | |
kinderleicht, mit ihm Gedichte zu schreiben (mein Leib- und Magenlied | |
finden Sie am Ende). | |
Um, erstens, Energie aus den Lebensmitteln zu holen, muss alles, ob | |
Magerquark, ob Saumagen, zu Brei zermahlen werden. Das erledigt der Magen | |
effektiv und diskret, verborgen hinter Muskeln, Speck und Zwerchfell. Und | |
weil er ein verdammt harter Sack ist, lässt er sich kaum was anmerken vom | |
Gewalke und Gemalme zwischen den Falten der Magenschleimhaut. Deren | |
lateinischer Name übrigens viel hübscher klingt, süß wie die Bäuerchen | |
eines Babys: Tunica mucosa gastrica. | |
Das Aufstoßen, vulgo: Rülpsen, wird zwar als „ekliger“ Laut verachtet. Do… | |
hat dies mehr mit Triebverzicht in Hochkulturen und daraus gezüchteten | |
Neurosen zu tun als mit echter Ekeligkeit. Wer Verdauungsdämpfe durch den | |
Rachen leitet, der erleichtert das Abdomen, reinigt die Speiseröhre und | |
kann hinterher tief durchatmen. Dem Schein zum Trotz lässt das Zentralorgan | |
auch beim Aufstoßen Zurückhaltung walten: Die Eruktation respektive der | |
Ructus beschränkt sich auf einen Ton ohne Botschaft, ein Geräusch ohne | |
Harm. Der Rülpser behelligt niemanden mit Gedanken, und manchmal riecht das | |
Gegenüber nichts. Soll Nietzsche doch die „Glücklichverdauenden“ schmähe… | |
er wäre zu gern einer von ihnen gewesen! Seiner Philosophie hätte es nicht | |
geschadet. | |
Zweitens: das „Bauchgefühl“. Das Knurren und Murren beziehungsweise das | |
Prickeln und Gickeln in der Magenblase haben als Anzeiger der eigenen | |
Befindlichkeit längst die Salons erobert, sind aus der Selbstanalyse nicht | |
wegzudenken. „Aus dem Bauch heraus“ wird heuer praktisch alles entschieden | |
– der Käse- und der Möbelkauf, das Kreuz auf dem Stimmzettel und die | |
Ebay-Auktion, die Brustvergrößerung und manchmal auch die Magenreduktion. | |
Der Magen ist ein ehrlicher Makler, das Lügen ihm fremd. Er verkrampft | |
sich, wo’s nottut, aber nie zum Schabernack. Es wird ihm flau, wenn eine | |
Gefahr droht, er scheint zu versteinern, passiert Scheußliches, und in | |
Momenten der Ekstase flattern Schmetterlinge durch den Magen (bei | |
Schlagerfuzzis: Flugzeuge). | |
Bisweilen, okay, müssen Menschen sich vor Lachen erbrechen. Aber das ist | |
ein Akt der Befreiung wie das Vomitieren generell. Den wohltuenden Effekt | |
einer Magenentladung wird keiner unterschätzen, der sich je mit falscher | |
Speise vergiftete. Ließen sich dumme Ideen nur ebenso leicht aus dem Gehirn | |
entsorgen! Die Liebe, das weiß jedes Kind, geht durch den Magen, bei der | |
Paarung herrscht Bauchgefühl wie nie. Wenn uns etwas auf den Magen schlägt, | |
erkennen wir geradeaus: „Mag nit!“ Der Brägen bringt es selten so ehrlich. | |
Auf das zähste aller Organe („eiserner Magen“) reimen sich, drittens, | |
lauter wackre Tätigkeiten – „jagen“ beispielsweise, „wagen“ oder „… | |
Reime mit „Kragen“, „vertagen“ oder „entsagen“ sind genauso erlaubt… | |
Magen passt sich nicht allein den vielen verschiedenen Stoffen an, die ihn | |
beschäftigen. Der Beutel in unseres Leibes Mitte fügt sich auch elastisch | |
zu jedem Reim. Sein Inhalt mag prosaisch anmuten. Die Hingabe an jeglichen | |
Stoff jedoch erweist den Magen als wahren Poeten des Metabolismus: | |
Die größte der Fragen an unsren Magen: / „Wie kannst du bloß die Galle | |
ertragen? / Sie schäumt und sie brennt, sie zischt und sie beißt, / Ist | |
saurer und bittrer als Essiggeist!“ /Da mag der Magen nur sagen: / „Gallig | |
heißt für mich Behagen.“ | |
Kay Sokolowsky | |
*** | |
## Warum das Ding im Bauch verdammt werden muss | |
Der Magen ist ein im wahrsten Sinne des Wortes ätzendes Organ, ein | |
säuerlich-miesepetriger Zeitgenosse, dem ständig irgendetwas sauer | |
aufstößt, der zu mimosenhaften Verstimmungen neigt, der bockt und zickt und | |
krampft und noch dazu verächtlich gluckert und böse knurrt. Wäre es | |
anatomisch nicht so grotesk, man könnte also behaupten, der Magen ist ein | |
Arschloch. | |
So kommt es, dass viele Menschen ihren Magen hassen – und das völlig zu | |
Recht. Doch ohne ihn können sie auch nicht leben. Also versuchen sie ihn | |
mit jeder Menge Magenbrot und literweise Magenbitter kurzfristig zu | |
besänftigen, damit er sie mit seinem ekelhaften Verhalten nicht ständig in | |
den Wahnsinn treibt. | |
Der Magen ist ein fauler Tyrann, das wusste man schon in der Antike. | |
Ebendies belegt auch die altgriechische Parabel vom Magen und den Gliedern. | |
Zur Zeit der Ständekämpfe um 494 v. Chr. schickte man einen gewissen | |
Agrippa (Erfinder der legendären Magen-Darm-Grippe) aus, um die vor sich | |
hin sezessierenden Plebejer zurückzuholen. Das schaffte er mit eben | |
besagter Magenparabel, in der die Glieder des Körpers ihre Tätigkeit | |
eingestellt hatten, um nicht dem faulen Magen dienen zu müssen. Die Glieder | |
hatten natürlich völlig recht, wurden aber selbst geschwächt und mussten | |
schließlich aus wenig erquicklichen Gründen einsehen, dass sie wieder ihren | |
Dienst aufnehmen sollten. Der faule Magen hatte gewonnen. | |
Vor dem Hintergrund dieser Historie scheint es geradezu systemimmanent, | |
dass der von Natur aus bösartige Magen an Geschwüren leidet. Er sitzt träge | |
auf seinem Thron im Leib des Menschen und erfreut sich am Elend anderer. Er | |
ist ein Usurpator, der dem rechtmäßigen Oberhaupt der Organe – dem Penis | |
beim Mann, dem Herz bei der Frau – die Position streitig macht. So viel | |
schlechtes Karma wirkt sich eben psychosomatisch aus, ergo gibt es | |
Magengeschwüre. | |
Und da wir gerade bei Herz und Penis waren! Sprechen wir von Liebe, die | |
geht sprichwörtlich durch den Magen. Doch dies ist Propaganda der übelsten | |
Sorte. Denn was geschieht mir ihr, der zarten Liebe? Sie wird vom Magen | |
brutal mit Salzsäure verätzt, dann in den Darm abgeschoben und am Ende – | |
machen wir uns doch nichts vor – kommt nur Scheiße dabei raus. Schönen Dank | |
auch, Magen! | |
Völlig zu Recht reimt sich in der deutschen Sprache nichts vernünftiges auf | |
Magen. Nur Klagen, Plagen, versagen, verzagen, schlagen, unbequeme Fragen, | |
schwere Lasten tragen. Wo soll das hinführen, ist ein Organ wie der Magen | |
heute überhaupt noch tragbar? Nein, sagen Ernährungswissenschaftler und | |
Philosophen. Eine aktuelle Studie der Bär-Telsmann-Stiftung belegt, der | |
Magen ist wie Hatespeech im Netz, ein Reichsbürger im Bauch, ein Donald | |
Trump der Eingeweide. Die Forscher fordern deshalb, ein sofortiges | |
Magenverbot zu verhängen. Ob sich politische Mehrheiten hierfür finden | |
werden, ist jedoch letztlich ungewiss. Einstweilen wird ein jeder selbst | |
mit seiner Magenplage fertig werden müssen. | |
Wie man damit umgeht, ist höchst individuell. Einige schwören auf die | |
moderne Chemiekeule, indem sie ihren Magen mit Rennie vollpumpen, was den | |
Magen „aufräumen“ und zur Raison bringen soll. Andere wiederum setzen auf | |
alte Hausmittel und kippen sich kiloweise geschmolzenen Gouda – respektive | |
Appenzeller oder Emmentaler – in den Hals, denn Käse schließt | |
bekanntermaßen den Magen. Ob diese Taktik des Abschottens und Aushungerns | |
im Fall des Magens aber Erfolg haben wird, ist mehr als fraglich. | |
Michael Gückel | |
18 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Kay Sokolowsky | |
Michael Gückel | |
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