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# taz.de -- Die Wahrheit: Lob der Bohne, Fluch dem Narziss
> Die große Wahrheit-Sommer-Debatte über Organe. Folge 5: Die Niere. Ein
> Pro und Contra zu dem doppelten Ding.
## Warum das Zwillingsorgan geliebt werden muss
Es gibt zwei Sorten von Superhelden: Die einen sind laut, die anderen sind
leise. Einer der leisesten Superhelden ist die Niere. Fast jeder Mensch hat
zwei davon, und das nicht ohne Grund. So bleibt stets eine einsatzbereit,
wenn die andere ausfällt. Die Amerikaner haben sich daran ein Beispiel
genommen und alle technischen Systeme zweifach in der Mondlandefähre
eingebaut. Und weil das so gut funktionierte, setzten sie der Niere mit der
Kidney-Bohne in Dosen ein weltweit populäres Denkmal. So hat die Niere
durch ihr Bohnen-Double, ohne es zu wollen, auch den Siegeslauf des Chili
con Carne günstig beeinflusst. Haben Sie das gewusst? Jetzt wissen Sie’s:
Ohne Niere läuft gar nichts! Buchstäblich! Daher sagen wir jetzt auch
einmal deutlich: Wir sind Niere!
Unter den unsichtbaren, ungeliebten und unverstandenen Organen ist die
unermüdliche Niere das unverstandenste. Obwohl die 15 Milliarden Nieren auf
der Welt täglich rund 45 Milliarden Liter Blut vom Bösen reinigen und
dieses ohne Harm dem gelben Fluss Urinoko zuführen, wissen die meisten
überhaupt nichts von ihr. Erst wenn mal eine Niere nicht mehr kann, kommt
sie ins Blickfeld. Das ist so unter zivilisierten Menschen, wusste schon
der Herrenreiter Ernst Jünger, der trotz Nikotin, LSD und Champagner nichts
daran ändern konnte, 102 Jahre lang zwei Nieren beherbergt zu haben: „Die
Reinigungskraft wird erst wahrgenommen, wenn sie nicht zum Dienst
erschienen ist.“
Zutiefst im Verborgenen wirkt unser Nierenpartnergespann und wurde zum
Urbild der Ermittlerpärchen in Krimiserien, der Geheimdienstler und
Geheimpolizisten. Nicht ohne Grund führt der Bundesnachrichtendienst den
Anfangsbuchstaben der Niere an prominenter Stelle in seinem Kürzel.
Überhaupt hat die Niere in der deutschen Sprache reinigend und
entschlackend gewirkt. „Genieren Sie sich nicht“, heißt es, wenn einer
jemanden auffordert, das, was ihm eigentlich an die Nieren geht, ungeniert
auszusprechen. Ein erst kürzlich entdeckter fünfter Merseburger
Zauberspruch hat ganz offensichtlich die Niere zum Thema: „Niera, Niero,
Nieru, Nierü, Nierö, Nierä, Niera, Niero, Nieru.“ Dieses rituelle Anrufen
und Beschwören der allmächtigen Niere sollte böse Einflüsse abwehren, eine
Tradition, die heute vor jedem Einschalten von Radio und Television wieder
aufgegriffen werden könnte, etwa in der Form: „O Niere, du gewaltige
Wäscherin des Lebenssaftes! Wasche die Nachrichten in allen Medien und lass
das Böse nicht an mich herankommen!“
Die spätere deutsche Literatur hat der Niere hingegen wenig abgewonnen,
wenn man von Goethes berüchtigtem Appetit für Saure Nierchen einmal
absieht, was James Joyce später in „Ulysses“ auf seine Hauptfigur Leopold
Bloom übertrug. Auch Urinus Edler von Bohns Novellensammlung „Niersteiner
Histörchen“ von 1893 konnte an dieser Negativbilanz wenig ändern. Schade.
Der Prophet gilt, wie man weiß, im eigenen Land am wenigsten.
Apropos Appetit auf Nieren – Gourmetkanibale Kook-ihh-Niiiri, der Häuptling
der Kookiii in Neuguinea, beteuert, dass auch menschliche Nieren exzellent
schmecken. Allerdings zieht er die einheimischen Urwaldexemplare den
Erste-Welt-Nieren definitiv vor. Das liegt nicht daran, dass Nachbarn
generell besser schmecken als Fremde, sondern am unvergleichlichen Aroma,
welches natürliche Lebensweise in allen Organen hervorbringt.
Was für sämtliche Jahrhunderte gilt, gilt besonders für das zwanzigste:
Ohne die Superheldin Niere wäre es nur halb so schön gewesen. Oder können
Sie sich die fünfziger Jahre ohne den Nierentisch vorstellen?
Tom Wolf
***
## Warum das Zwillingsorgan verdammt werden muss
Die Niere ist der Narziss unter den Organen. Nicht nur nimmt sie durch ihr
Zwillingsdasein im Körper unnötig Platz ein und ist schuld, dass Leber,
Magen und Blase sich im Bauchraum zusammendrängen müssen, statt etwas
kommoder unsere Exzesse verwalten zu können – nein, die Niere findet auch
nie das richtige Maß. Dauernd muss sie auf sich aufmerksam machen!
Ungezählt die Beipackzettel, auf denen vor der Einnahme eines
unverzichtbaren Medikaments gewarnt wird, bloß weil mal wieder die Niere
Schaden nehmen oder gar vorher schon an Niereninsuffizienz – also an
Nierenschwäche – leiden könnte. Womit schon die ganze Misere benannt ist:
Die Niere kann eigentlich gar nix.
Jeder, der annimmt, er sei im Besitz zweier vermeintlich gesunder
Nierenexemplare, unterliegt einer arglistigen Täuschung. Die Niere ist
störanfällig wie die Klimaanlagen im ICE und brütet heimtückisch
ununterbrochen Nierensteine, Nierenbeckenentzündungen oder sonst was
Hässliches aus, und nur weil sie so oft kaputtgeht, ist standardmäßig auch
gleich eine zweite installiert. Da schleppt der Körper also jahrelang zwei
Saubermacher-Nieren mit sich herum, für den Fall, dass eine von ihnen
schlappmacht. Mal ernsthaft jetzt? Nur die V6-Motoren überflüssiger
PS-Protze haben zwei Katalysatoren, aber ein normaler Mensch kommt
eigentlich locker mit einem aus. Die Niere ist quasi der Diesel unter den
Organen, unausgereift und betrügerisch und geht trotz allem immer noch als
Star der körpereigenen Putzkolonne durch.
Vor lauter Begeisterung über die eigene Großartigkeit bläst die Niere sich
sogar gelegentlich zu einer sogenannten Doppelniere auf, in der sie sich
dann selbstverliebt spiegelt. Ihr argloser Besitzer muss dann im
schlimmsten Fall seinen Lebenstraum begraben, mit mehr als zwei Nieren kann
er nämlich zum Beispiel eine Pilotenausbildung in die Tonne hauen.
Im Übrigen gibt es absolut kein Organ, das mit derart teuflischen Schmerzen
aufwarten kann wie die Niere, wovon jeder Boxer, der mal Nierenschläge
einstecken musste, und alle jene, die jemals unter Nierensteinen litten,
erschütternde Berichte geben können. Verglichen mit Nierenkoliken ist eine
Sechslingsgeburt der reinste Wellness-Urlaub!
Als Reaktion auf all diese Zumutungen entstand die treffende Bezeichnung
„sich genieren“, in der das berechtigte Schuldbewusstsein eines Organs zum
Ausdruck kommt, das für Dialysen, Koliken und regional verehrte, aber
ungenießbare Saure-Nierchen-Rezepte verantwortlich ist, die jeden
Kulinariker in die Flucht schlagen.
Zuletzt müssen noch die scheußlichen Auswüchse erwähnt werden, zu denen
Designer fähig sind, wenn sie beim kreativen Schaffensprozess zu tief in
sich hineinschauen und das erste Organ, dem sie dabei begegnen, eine Niere
ist. Dabei kommt dann eine zum Möbel erstarrte ästhetische Verirrung
heraus, die ein ganzes Jahrzehnt exemplarisch geprägt hat. Und nicht nur
das, die Nierentisch-Design-Verbrechen der fünfziger Jahre leben als ewige
Wiedergänger in einer endlosen Retro-Look-Schleife zahlloser
Einrichtungshäusern weiter und verätzen unsere Netzhäute.
Nie wieder Nierchen! Nieder mit der Niere! Ihre Aufgaben übernimmt von nun
an bei doppelter Größe die stille, zuverlässige Leber, einzig in den
Körpern von Kriegsverbrechern soll sie noch weiterleben. Dort soll sie
Steine bilden und sich entzünden, auf dass ihre Besitzer sich in
gleißender, nicht enden wollender Pein winden mögen. Allen anderen sei ein
schönes, schmerzfreies Leben ohne die Niete . . . äh, Niere, vergönnt.
Pia Frankenberg
11 Aug 2017
## AUTOREN
Tom Wolf
Pia Frankenberg
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