# taz.de -- Die Wahrheit: E-Motionen von Heulsusen | |
> Die neueste technische Innovation ist emotionale Erpressung im | |
> „Och-menno-wo-steckst-du-lass-uns-miteinander-reden“-Newsletter. | |
Bild: Neuerdings flennen sich die Jammerlappen dieser Welt in tränenfeuchten N… | |
Seit Erfindung der E-Mail fragt der Mensch sich: Kann es auf dem Gebiet der | |
elektronischen Post etwas Nervigeres und Überflüssigeres geben als Spam? | |
Lange wusste man darauf keine Antwort. Dennoch existieren immer wieder | |
Versuche, etwas noch Überflüssigeres zu etablieren. Etwa den sogenannten | |
E-Post-Brief, der so hochsicher war, dass kaum einer die Hürden nahm, sich | |
überhaupt dafür zu registrieren. | |
Davon abgesehen gibt es ja normale E-Mails umsonst. Nun fristet der | |
E-Post-Brief ein vollkommen analoges Dasein als Hinweis auf der Rückseite | |
von Briefen der Deutschen Post. „Hallo, es gibt mich noch! Habt ihr mich | |
alle vergessen?“, schreit einem der Aufdruck entgegen – sofern man so weit | |
kommt, den Brief überhaupt umzudrehen. | |
Etwas Nervigeres als Spam zu verschicken ist da also schon schwieriger. In | |
diese Kategorie fielen in der Vergangenheit allerhöchstens Mails von | |
Freunden und Bekannten, die einem Urlaubsbilder mit 23 Megabyte Größe | |
senden wollten, die sich dann minutenlang durch viel zu dünne | |
Telefonleitungen quälten. Aber gut, das ist passé, seit dem | |
flächendeckenden Breitbandausbau ist das ja nirgendwo mehr ein Problem. | |
Außer im Schmalbandstandort Deutschland natürlich. | |
## Nervflüssige Aktion | |
Die bisher getrennten Eigenschaften „nervig“ und „überflüssig“ zu ver… | |
gelang bisher keinem Produkt – eben abgesehen vom Spam, der im Gegenzug | |
aber oft für sich verbuchen musste, unfreiwillig komisch oder zumindest | |
sexueller Natur zu sein. Nun hat es endlich ein aktueller E-Mail-Trend | |
geschafft, beide Eigenschaften zusammenzuführen, aber dabei kein bisschen | |
lustig, komisch, frivol, anzüglich oder gaga zu werden. Die pure Portion | |
„nervflüssig“ also. Womöglich hat das Phänomen auch schon einen | |
Fachbegriff, nur ist dieser mangels Relevanz noch nicht zur breiten Masse | |
durchgedrungen, „stressdundant emo action“ oder so. Es handelt sich um | |
diese heulsusigen | |
„Och-menno-wo-steckst-du-lass-uns-miteinander-reden“-Newsletter, die | |
mittlerweile immer häufiger verschickt werden. Das sind die, wo in der | |
Betreffzeile in irgendeiner Form „Wir vermissen dich!“ steht. | |
Huch, denkt man, wenn da einer schreibt, er vermisst einen, dann muss das | |
doch eine ernste Sache sein. Vermissen ist ein Schlüsselwort für den | |
fühlenden und denkenden Menschen, da geht es um Liebe, Zuneigung, um | |
Schmerz, da muss man reagieren! Klar, so ist es. Das ist der Zeitpunkt, an | |
dem man sich eingestehen muss, dass man Affären mit diversen Onlineshops | |
hatte und dass die alleingelassenen virtuellen Geliebten aus dem Internet | |
nun zu Hause anrufen beziehungsweise herzzerreißende E-Mails schreiben. | |
## Infiziert vom WannaCry-Virus | |
Der Tenor dieser Mitteilungen lautet: „Schau doch mal wieder vorbei, bitte, | |
bitte, bestell einfach ein paar Möbel, Weine, Computer-Peripherieartikel, | |
DVDs, Rindfleisch, Schuhe, bitte … Ist doch nicht zu viel verlangt.“ Genau | |
dieses Gefühl ist es, das uns der offenbar nah am Wasser gebaute | |
Newsletter-Server vermitteln will. Ja, sind die Newsletter-Server denn alle | |
vom WannaCry-Virus infiziert worden? Das ist emotionale Erpressung, so | |
sieht es aus. Man hatte doch nie versprochen, nur diesem einen Onlineshop | |
treu zu sein und keinen anderen mehr anzuklicken. Was bilden die sich ein? | |
Dass man sich von seinem stationären Einzelhandel scheiden lässt und die | |
Filialen einfach ihrem Schicksal überlässt? | |
„Wir vermissen dich!“, schreibt schon wieder ein Blumenhändler. Diesmal hat | |
der Server noch den Namen „Anna“ in die Betreffzeile gequetscht. Anna | |
vermisst einen. Es menschelt. Also, pass auf, Anna. Das wird nichts mehr | |
mit uns beiden. Wir sollten uns eine Zeit lang nicht sehen, hören und | |
lesen. Ich habe außerdem einen anderen Shop angeklickt. Er ist jünger als | |
du, er sieht besser aus und ist in der Community voll angesagt. Und er hat | |
zugegebenermaßen auch ein viel strafferes Sortiment. Du kommst bestimmt | |
drüber weg. Zur Not lass dir einfach die Datenbank liften. Wir werden dich | |
nicht allzu sehr vermissen. | |
8 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Michael Gückel | |
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