Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Remember September
> Wenn ich am 24. 9. ins Dorfgemeinschaftshaus pilgere, um mit wichtiger
> Miene in der Wahlkabine zu verschwinden, werde ich wieder ganz gerührt
> sein.
Als ich Kind war, lag das Wahllokal, das meine Eltern aufsuchten, in einer
Kneipe. Am Sonntagmorgen wurde dort fröhlich gefrühschoppt. Durch den
Zigarettenqualm waren die Wahlkabinen kaum zu erkennen. Ich wartete vor den
Pressholzwänden verlegen auf meine Eltern. Meine langen Zöpfe hingen in
Ehrfurcht vor dem demokratischen Akt links und rechts brav am Kopf
herunter, statt abzustehen wie bei Pippi Langstrumpf. Ich trug Faltenrock
und Clubjacke, um den Anlass zu würdigen, und außerdem vermutlich ein
Pflaster auf mindestens einem Knie. Die Kneipe war mir eigentlich zu
prosaisch für das heilige Ritual.
Das Ganze war nämlich geheimnisvoll und toll und verlieh meinen Eltern eine
Aura von Wichtigkeit und Würde, die sie im Alltag nicht so deutlich
ausstrahlten. Deswegen freute ich mich schon sehr auf meine erste eigene
Wahl. Das Jahrzehnt bis dahin wurde zunächst überbrückt mit familiärem
Wahl-Toto an den hohen Demokratiefeiertagen, bei dem ich nie gewann; später
dann mit pubertärem Gestreite für die Abschaffung des Kapitalismus (ich)
gegen die Reaktion (meine Eltern), bei dem ich auch nie gewann.
Lustige Erinnerung: Wie mein Vater dozierte, er würde niemals eine Stimme
an eine Partei wie Die Grünen verschwenden, die es auf keinen Fall in ein
Parlament schaffen könnte. Kurz danach flog seine FDP aus der Hamburger
Bürgerschaft, und wir kamen aus dem Feixen gar nicht mehr heraus.
Unlustige Erinnerung: Bei meiner ersten Wahl war ich so vernebelt vom
Gefühl staatstragender Bedeutung, dass ich SPD gewählt habe. Nicht die
Wir-haben-euch-doch-alle-lieb-SPD von heute, sondern die von Helmut Schmidt
mit dem Nato-Doppelbeschluss. Tja.
Zehn Bundestags- und ungezählte Mittel- und Kleinwahlen später bin ich
Opfer einer unangenehmen Wurschtigkeit geworden. Weihnachten fühlt sich ja
beim fünfzigsten Mal auch anders an als früher. Solange ich nicht von einer
CSU-AfD-Koalition regiert werde, ist mir inzwischen beinahe alles recht.
Läuft doch hier, was regt ihr euch so auf? Ach so, es regt sich gar keiner
auf? Alles lässig?
Nein. Dafür hat mir meine Mama damals die Zöpfe nicht geflochten, dass nun
alle nur noch „Mir doch egal!“ rufen und am Wahlsonntag im Bett bleiben.
Allein der Umstand, dass Kinder schlecht ausgebildeter Eltern es meist
nicht bis zum Abitur schaffen, egal wie schlau sie sind, sollte einem die
Wuttränen in die Augen und den Wahlkuli in die Hand treiben.
Wählen gehen! Nur wen oder was? Der Wahl-O-Mat legt mir nahe, Die Partei
anzukreuzen; das ist offenbar etwas wie Loriots Familienbenutzer für Leute
meiner Generation – passt für jeden. Ich gehe aber lieber noch einmal über
Los und für ein paar Tage in die politische Bildungsanstalt, vielleicht
kommt danach was anderes raus. Und wenn ich am 24. 9. in unser
Dorfgemeinschaftshaus pilgere, um mit wichtiger Miene in der Wahlkabine zu
verschwinden, werde ich wieder ganz gerührt sein. Schade, dass Zöpfe nicht
mehr modern sind.
13 Sep 2017
## AUTOREN
Susanne Fischer
## TAGS
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Kindheit
Eltern
sexuelle Belästigung
Schwerpunkt Frankreich
Niedersachsen
Biologie
Möbel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Magic Schrottwichteln
Früher waren Weihnachtsfeiern besser. Da konnte man den Schnickschnack, der
sich angesammelt hatte, unter die betrunkenen Leute bringen.
Die Wahrheit: Hashtag Doppel–X*
Geschlechtergerechtigkeit für Besetzungscouchen – das bekommt
wahrscheinlich nicht einmal Gott hin, dieses alte Mädel vom Jüngsten
Gericht.
Die Wahrheit: Franzicke unter Franzacken
Französische Woche der Wahrheit: Immer essen müssen die vom hohen Wert der
Nahrung ergriffenen Franzosen. Gäste sollen mitschlemmen.
Die Wahrheit: Niederlagen in Niedersachsen
Ein Bundesland dreht auf. In diesem Sommer wird rund um Hannover jede Menge
politischer Unrat aufgewirbelt.
Die Wahrheit: Lob dem Bregen, Fluch dem Schwamm
Die große Wahrheit-Sommer-Debatte über Organe. Folge 3: Das Hirn. Ein Pro
und Contra zu dem lappigen Ding.
Die Wahrheit: Das Stockholm-Küchen-Syndrom
Wohnen ist neuerdings eine Art Lebensaufgabe, für die diese Sache namens
Geschmack verlangt wird – zumindest beim Möbelkauf …
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.