# taz.de -- Barrierefreiheit in Städten: Immer was im Weg | |
> Der Weg durch die Stadt ist für Menschen mit Behinderungen immer noch | |
> mühselig. Was Ihnen fehlt, ist eine starke Lobby. | |
Bild: Der Langstock hilft blinden Menschen bei der Orientierung | |
LEIPZIG taz | Wer mit Rose Jokic sprechen will, muss schnell auf den Punkt | |
kommen. Die Mittdreißigerin mit den langen braunen Haaren hat nicht viel | |
Zeit. Die eine Hälfte der Woche erarbeitet sie in Leipzig Workshops zum | |
Thema Barrierefreiheit, die andere Hälfte der Woche berät sie aus Dresden | |
heraus Kultureinrichtungen zum Thema Inklusion. Für die Beratungen und | |
Schulungen ist sie viel unterwegs: Letzte Woche war sie in Hamburg und | |
Berlin. Gerade ist sie auf dem Weg nach Chemnitz. | |
Warum ihre Arbeit so wichtig ist, merkt sie täglich dutzende Male auf ihren | |
Wegen. Immer wieder stößt sie auf Barrieren: Ampeln etwa. Denn Jokic ist | |
blind. „Tack, tack, tack, tack“ – das regelmäßige Klopfen der Ampeln ne… | |
die meisten gar nicht wahr. Blinden Menschen soll es helfen, sich zu | |
orientieren und sicher über die Straße zu kommen. | |
Doch wenn Jokic in Leipzig überhaupt einmal auf eine so ausgestattete Ampel | |
stößt, ist sie in der Regel falsch eingestellt. Statt vom Bürgersteig zum | |
Ampelmast führt das Signal sie auf die Straße. Abends ist es ganz | |
abgeschaltet. Leipzig, der Stadt, in der Jokic seit fünf Jahren lebt, | |
stellt sie kein gutes Zeugnis aus: „Leipzig barrierefrei?“ Sie lacht auf. | |
„In dieser Stadt hapert es an vielem.“ | |
In Leipzig leben knapp 50.000 Menschen, die einen gültigen | |
Schwerbehindertenausweis haben. Hinzu kommen 9.000 Menschen mit schwerer | |
Behinderung, aber ohne gültigen Ausweis. Die | |
UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland bereits 2009 ratifiziert | |
hat, verpflichtet nicht nur Bund und Länder, sondern auch die Kommunen, | |
dafür zu sorgen, dass behinderte Menschen möglichst uneingeschränkt und | |
ohne fremde Hilfe am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. | |
Sie hat einen Paradigmenwechsel eingeläutet: weg von der Fürsorge und hin | |
zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Eine | |
Umgebung, die so weit wie möglich von Barrieren befreit ist, ist die | |
Grundvoraussetzung dafür. | |
## Bau und Mobilität im Fokus | |
Barrierefreiheit – damit verbinden viele vor allem Blindenleitsysteme, | |
abgesenkte Bordsteine und Straßenbahnen und Busse mit Niederflurtechnik. | |
Menschen mit Behinderung bräuchten aber nicht nur Zugang zu öffentlichen | |
Verkehrssystemen, Gebäuden und Plätzen, sondern auch die Möglichkeit, mit | |
anderen zu kommunizieren und sich zu informieren, betont Carola Hiersemann. | |
Als Beispiel nennt sie Broschüren, Internetauftritte und | |
Podiumsdiskussionen, die so gestaltet werden müssten, dass sowohl Menschen | |
mit Seh- und Hörbeeinträchtigungen als auch Menschen mit | |
Lernschwierigkeiten diese nutzen könnten. Seit 17 Jahren setzt sie sich für | |
die Belange Behinderter ein. Als Beauftragte für Menschen mit Behinderungen | |
berät sie Stadtverwaltung und Stadtrat und arbeitet mit Vereinen und | |
Verbänden der Behindertenhilfe zusammen. Wie ist es aus ihrer Sicht um die | |
Barrierefreiheit in Leipzig bestellt? | |
„Der größte Teil der behinderten Menschen hat Probleme mit physischen | |
Barrieren, das haben wir gut im Blick“, sagt Hiersemann. In den letzten | |
Jahren sei viel erreicht worden. Sie verweist auf das Blindenleitsystem in | |
der Innenstadt, rollstuhlgerechte Rampen und Aufzüge und den barrierefreien | |
Umbau von Haltestellen. In diesem Bereich stünde man auch deshalb so gut | |
da, weil es Gesetze gebe, die etwa die Barrierefreiheit von neu gebauten | |
öffentlichen Gebäuden vorschrieben. | |
Gunter Jähnig ist seit 27 Jahren Geschäftsführer des Behindertenverbandes | |
Leipzig, der unter anderem die Beratungsstelle für barrierefreies Bauen und | |
Wohnen betreibt. Er sieht die Situation nicht ganz so rosig: „Gesetze | |
nützen nur etwas, wenn sie auch eingehalten werden“. | |
Bei der Eröffnung des Leipziger Citytunnels 2013 etwa standen | |
Rollstuhlfahrer vor einer unüberbrückbaren Hürde: Auf den letzten Metern | |
der Unterführung von der Innenstadt zum Einkaufszentrum im Hauptbahnhof | |
hätten sie eine 1,50 Meter hohe Treppe überwinden müssen. | |
Zwar teilt Jähnig die Einschätzung Hiersemanns, dass im Bereich Bauen und | |
Mobilität am meisten geschehe. „Aber Barrierefreiheit ist kein Thema, das | |
in Politik und Verwaltung oben aufliegt. Es ist immer noch nicht so, dass | |
es konsequent und von vornherein mitbedacht wird.“ | |
## Angebote in Leichter Sprache gibt es wenig | |
In der Praxis ist das auch keine ganz leichte Aufgabe. Aufgrund der | |
unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ist die | |
Bandbreite der notwendigen Maßnahmen groß. Die vier aufeinander aufbauenden | |
Workshops, die Rose Jokic für das Antidiskriminierungsbüro Sachsen zum | |
Thema anbietet, dauern jeweils einen ganzen Tag. | |
Die Teilnehmer kommen aus sächsischen Vereinen und Verbänden, der | |
Verwaltung oder der Wirtschaft. Mit Jokics Hilfe lernen sie, wie | |
Faltblätter, Einladungen, PDF-Dokumente und Internetauftritte für blinde | |
oder sehbehinderte Menschen aufbereitet werden können. Sie üben, wie man | |
Aushänge, Bescheide und Texte im Internet in [1][Leichte Sprache] | |
übersetzt, so dass auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sie | |
verstehen können. Im letzten Modul erhalten sie Tipps zur | |
gebärdensprachlichen Kommunikation mit gehörlosen und hörbeeinträchtigten | |
Personen. | |
Das seien genau jene Bereiche, die noch nicht ausreichend im Fokus der | |
Politik stünden, meint die Behindertenbeauftragte Hiersemann. „Gerade was | |
Angebote in Leichter Sprache angeht, stehen wir als Stadt noch ziemlich am | |
Anfang und kämpfen uns mühsam nach vorne.“ Dass im Laufe dieses Jahres die | |
ersten Inhalte in leichter Sprache auf der Website der Stadt erscheinen | |
sollen, sei ein langer und mühsamer Prozess gewesen. | |
Rose Jokic ist es ein Anliegen, dass sich Menschen mit Behinderungen selbst | |
für ihre Belange einsetzen. Sie selbst hat das im Behindertenbeirat der | |
Stadt versucht. Das Gremium besteht aus Vereinen und Verbänden der | |
Behindertenhilfe, Mitgliedern der Verwaltung und parteipolitischen | |
Vertretern der Stadt. Auch Gunter Jähnig und Carola Hiersemann sind | |
Mitglieder. Doch nach einigen Besuchen war für Jokic klar: Das ist | |
vergeudete Zeit. „Es gibt kaum Diskussionsmöglichkeiten und niemand haut | |
mal auf den Tisch. In erster Linie arbeitet man der Stadt zu.“ | |
Anders als Jokic, der Veränderungen nicht schnell genug gehen können, hat | |
Hiersemann im Laufe der Jahre die Erfahrung gemacht, dass sie durch | |
Kooperation mehr erreicht als durch Konfrontation: „Ich bin in meinem Job | |
Einzelkämpferin – ohne Partner in der Stadtverwaltung und bei den Verbänden | |
und Vereinen geht gar nichts.“ | |
Sie betont, dass der durch die UN-Behindertenrechtskonvention eingeläutete | |
Paradigmenwechsel nicht schnell zu haben sei. „Wir versuchen zwar das Thema | |
zu puschen. Aber es muss erst mal in die Köpfe der Leute, dass ein ‚Weiter | |
so‘ wie bisher in der Zukunft nicht mehr ausreicht. Das braucht Zeit.“ | |
## Ohne Geld bleiben Barrieren bestehen | |
Hiersemann hofft auf den Teilhabeplan. Dieses viele Seiten starke Papier, | |
an dem unter Federführung des Sozialamtes seit 2015 gearbeitet wird, | |
benennt Ziele und Maßnahmen, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen | |
zu verbessern. Und es definiert, welche Ämter wofür verantwortlich und | |
rechenschaftspflichtig sind. | |
So ist etwa das Sozialamt in Zukunft dafür zuständig, dass bei öffentlichen | |
Veranstaltungen der Stadt Gebärdensprachdolmetscher eingesetzt werden. | |
„Barrierefreiheit für alle ist der Dreh- und Angelpunkt des Plans“, meint | |
Hiersemann. Sie verspricht sich eine größere Sensibilisierung der | |
Verwaltung und Akzeptanz und Aufmerksamkeit für das Thema in der | |
Bevölkerung. | |
Nicht so Norman Volger. Der Fraktionssprecher der Grünen im Stadtrat sagt: | |
„Die Verwaltung könnte auch jetzt schon mit Hochdruck an dem Thema | |
arbeiten. Aber dafür müsste Barrierefreiheit politisch zur Priorität | |
erhoben werden.“ | |
Die Hoffnung Hiersemanns, dass der Teilhabeplan dem Thema mehr Nachdruck | |
verleiht, teilt Volger nicht: „Der entscheidende Kampf findet in den | |
Haushaltsverhandlungen statt. Wir haben in dieser Stadt sehr viele schöne | |
Pläne. Solange die nicht finanziell untersetzt sind, ändert sich nichts.“ | |
Menschen mit Behinderungen hätten im Vergleich zu anderen Gruppen in der | |
Stadt eine eher schwache Verhandlungsposition. „Die Engagierten für diese | |
Menschen schreien leider sehr selten sehr laut.“ | |
Rose Jokic tut das auf ihre Weise. Ihre Mission ist, die Teilhabe von | |
Menschen mit Behinderungen voranzutreiben und sie dabei am liebsten selbst | |
sprechen zu lassen. Auch wenn der Ausflug in die kommunale Politik nicht | |
ihre Sache war, setzt sie sich in ihrer täglichen Arbeit weiter dafür ein. | |
27 Aug 2017 | |
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## AUTOREN | |
Nadja Mitzkat | |
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