# taz.de -- Inklusion auf dem Wurzel-Festival: Ohne Helene Fischer geht es auch | |
> In Brandenburg feiern Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam beim | |
> barrierefreien Wurzel-Festival. Ein Besuch. | |
Bild: Dem inklusiven Feiern den Weg ebnen- das war Anliegen der Veranstalter*in… | |
Kathi*, Isabella* und Benny* sitzen in der prallen Mittagssonne auf einer | |
Bierbank und essen blaue Gummischlangen. Bässe klingen im Hintergrund. Die | |
drei sind auf dem Festival „Zurück zu den Wurzeln“, das an diesem warmen | |
Wochenende in Niedergörsdorf im südlichen Brandenburg stattfindet. „Ist | |
zwar nicht so meine Musik hier, aber das Camp ist in Ordnung, die Leute | |
sind in Ordnung, is schon alles jut hier“, kommentiert Isabella ihren | |
ersten Festivalbesuch. | |
Isabella und ihre BanknachbarInnen sind mit dem Verein Lebenshilfe auf das | |
Wurzel-Festival gefahren. Im sogenannten Inklusionscamp gibt es Zelte für | |
Festivalinteressierte mit körperlichen Beeinträchtigungen und | |
Lernschwierigkeiten, die auf vielen anderen Festivals häufig durch | |
Barrieren behindert werden. Die Zelte sind mit Feldbetten für die 70 | |
angemeldeten TeilnehmerInnen ausgestattet, orange und bordeauxrote | |
Sonnensegel spenden Schatten. | |
Isabellas Banknachbarin Kathi ist gemeinsam mit ihrem Freund Locke* als | |
Tagesgast angereist. Beide nutzen für längere Strecken Rollator und | |
Rollstuhl. „Das Camp ist toll, so kommen wir mal raus“, kommentiert Kathi. | |
Die Anfang-40-Jährige ist das erste Mal auf einem Festival. | |
Das „Zurück zu den Wurzeln“ gibt es seit 2016. In diesem Jahr wirbt es mit | |
Inklusion, es soll ein möglichst barrierefreies Festival sein. Dazu haben | |
sich die Organisatoren die Sozialarbeiter Markus Lau und Carsten Hirthe von | |
der Lebenshilfe aus Berlin ins Boot geholt. Die beiden tüftelten seit | |
Längerem an Ideen zu mehr Inklusion beim Feiern – auch, um den eher | |
verstaubten und Helene-Fischer-lastigen Veranstaltungsangeboten für | |
behinderte Menschen etwas entgegenzusetzen, erklärt Lau. Als die Wurzelcrew | |
fragte, ob sie mitmachen wollten, sagten sie zu. | |
## „Die Praxis lässt noch ein bisschen zu wünschen übrig“ | |
In einer Menge Überstunden hätten sie gemeinsam das Konzept für ein | |
barrierefreies Festival entwickelt, erzählt Lau. Dazu gehört neben dem | |
Inklusionscamp ein für RollstuhlfahrerInnen geeignetes Wegeleitsystem zu | |
den unterschiedlichen Floors. InklusionslotsInnen sind über Telefonsäulen | |
am Wegesrand erreichbar. Auf dem ganzen Festivalgelände stehen zudem | |
barrierefreie Klos. | |
So das Konzept. „Die Praxis lässt noch ein bisschen zu wünschen übrig“, | |
merkt Markus Lau kritisch an, während er über das Gelände läuft und | |
begutachtet, wie die FestivalorganisatorInnen das Konzept umgesetzt haben. | |
Viele junge Leute sind gekommen, manche haben sich mit Glitzer geschminkt. | |
Das Festival findet auf einem stillgelegten Flughafen statt. „Dadurch gibt | |
es schon eine ganz gute Infrastruktur, weil viele der Hauptwege geteert | |
sind“, erklärt Lau. Aber ganz zufrieden ist er nicht. Den grasbewachsenen | |
Übergang zwischen Landebahn und Bühne ebnen mit Kies und Gewebeflies | |
unterlegte Plastikplatten, die am Rande einiger Floors in sandige | |
Tanzflächen münden. „Mitten auf der Tanzfläche können Menschen im Rollstu… | |
so leider nicht tanzen“, bedauert Lau. | |
Und auch sonst gibt es in Sachen Barrierefreiheit an vielen Stellen noch | |
Luft nach oben: Die Theken der Bars sind nicht abgesenkt, die | |
rollstuhlgerechten Wege erschließen nur Teile des Geländes. Auch auf | |
sehbehinderte Menschen sei das Festival nicht ausgerichtet, sagt | |
Sozialarbeiter Hirthe. „Noch“, fügt er hinzu. „Um es perfekt zu machen, | |
hätten wir ein Jahr gebraucht, wollten wir aber nicht. Das Festival ist ein | |
großer Testballon, aus dem wir jetzt ganz viel lernen.“ Auch eine der | |
Organisatorinnen des Wurzel-Festivals sagt: „Das ist erst einmal nur ein | |
Anfang und zumindest ein Zeichen.“ | |
## Positivbeispiel Boom | |
Vielleicht sollten sich Lau und Hirthe mal mit Ben* unterhalten. Er hat | |
Spinale Muskelatrophie und sitzt im Rollstuhl. Trotzdem habe er in den | |
letzten Jahren auf 20 Festivals gefeiert, erzählt er am Telefon. Eigentlich | |
wollte er in diesem Jahr auch auf das Wurzel-Festival, der Musik wegen, | |
„hat aber leider nicht geklappt“. | |
Ben kann eine Menge zu Barrieren erzählen, die trotz gutem Willen | |
existieren. Im typischen Dixieklo für behinderte Menschen etwa, wie sie | |
auch auf dem Wurzelgelände überall verteilt stehen, gebe es zwar mehr | |
Platz. Er persönlich brauche aber eine Ablage oder Umziehfläche. „Darum hab | |
ich auf vielen Festivals am Ende doch zum Anziehen am Boden vor dem Dixie | |
gelegen.“ | |
Die besten Erfahrungen hat Ben bisher auf dem 26.000 BesucherInnen | |
zählenden Boom-Festival in Portugal gemacht. Seit acht Jahren bemühe man | |
sich dort, Barrieren abzubauen, berichtet Ben. Den Floor einzig für | |
behinderte Menschen stellt er dennoch infrage: „Das hat meiner Meinung nach | |
nichts mehr mit Inklusion zu tun.“ Ein extra Camp für behinderte Menschen | |
findet er eine gute Idee. „Schade ist nur, wenn man nicht mit seiner Crew | |
campen kann.“ | |
Auch der Zeltplatz des Wurzel-Festivals ist nur teilweise allen zugänglich. | |
„Ein komplettes Festival barrierefrei zu gestalten, ist eine ziemliche | |
Materialschlacht und natürlich nicht ganz billig“, erklärt Markus Lau. | |
Dass alles noch nicht perfekt ist, verzeiht Kathis Freund Locke den | |
Veranstaltern gerne. „Ich find alles klasse hier, vor allem bezahlbar“, | |
erklärt der Festivalneuling. Für vier Tage zahlt er 32 Euro. Den Vormittag | |
hat er genutzt, um Pfand einzusammeln. „Jetzt muss ich los, Flaschen | |
abgeben.“ Er hebt die Hand zum Abschied und fährt, bepackt mit einer großen | |
Tüte voller Leergut, in seinem Elektrorollstuhl über die ehemalige | |
Landebahn davon. | |
* Name geändert | |
16 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Anne Pollmann | |
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