# taz.de -- Streit um Inklusion in Berlin: „Wäre Förderschule nicht besser?… | |
> Bereits im Kindergarten riet man unserer Autorin ab, auf eine reguläre | |
> Schule zu gehen. Sie hat es trotzdem getan. Eine persönliche Abrechnung. | |
Bild: Gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Schülern gi… | |
Eine alltägliche Schulhofszene, egal wo. Ein Schüler ärgert einen | |
Mitschüler, der wird wütend und brüllt zurück: „Bist du behindert oder | |
was?“ Ein unüberlegter Kommentar? Vielleicht. Aber er zeigt einen Mangel an | |
Sensibilität, der seine Ursache auch darin hat, dass in den Schulen noch | |
lange nicht selbstverständlich ist, was eigentlich längst | |
selbstverständlich sein sollte: das gleichberechtigte Lernen von | |
behinderten und nicht behinderten Kindern. | |
2009 trat die UN-Behindertenkonvention in Deutschland in Kraft. Sie räumt | |
unter anderem Eltern von Kindern mit Behinderung das Recht ein, frei zu | |
wählen, ob das Kind eine Förderschule oder eine Regelschule besuchen darf. | |
Im Dezember 2006 besuchte ich die elfte Klasse. Für mich war es zu Beginn | |
meiner Schulzeit also noch nicht selbstverständlich, die Schulform frei | |
wählen zu dürfen. Für meine Mutter war es ein Kampf durch die Instanzen. | |
Bei mir wurde in frühester Kindheit das Moebius-Syndrom diagnostiziert: | |
eine Gesichtsmuskellähmung, einhergehend mit körperlichen Fehlbildungen. | |
Bei mir ist der linke Unterarm nicht voll ausgebildet. | |
Leider ziehen viele Menschen daraus den Rückschluss, dass eine körperliche | |
Behinderung automatisch auch eine geistige Behinderung bedeutet: Bereits | |
meine Erzieherin im Kindergarten riet meiner Mutter, sich für mich um einen | |
Platz bei einer Förderschule zu bemühen. Doch meine Mutter wollte das nicht | |
– und meldete mich an einer regulären Grundschule an. | |
Die Schulaufsicht bei der Senatsbildungsverwaltung stellte daraufhin die | |
Bedingung, dass ich einen Schulhelfer zur Seite gestellt bekommen muss. Das | |
Verfahren war bürokratisch, kompliziert und zog sich somit in die Länge – | |
wodurch ich erst mit sieben Jahren eingeschult werden konnte. Immer wieder | |
fiel in dieser Zeit von behördlicher Seite die Frage: „Denken Sie nicht, | |
eine Förderschule wäre besser für Ihre Tochter?“ | |
Erstes Elterngespräch, siebte Klasse. Ich stehe im Büro meiner | |
Schulleiterin, die gleichzeitig meine Deutschlehrerin ist und versuche | |
meine Nervosität zu verbergen. Wird diese Frau, die gleichzeitig die | |
Schulleiterin ist, positive Worte für mich finden? Oder wird sie sagen, | |
eine Förderschule wäre geeigneter für mich? Ihre nächsten Worte steigern | |
mein Selbstwertgefühl erheblich: „Es wird mir eine Freude sein, Sandra in | |
sechs Jahren ihr Abiturzeugnis überreichen zu dürfen!“ | |
Nur ein Jahr zuvor wollte mich eine andere Lehrerin unbedingt auf einer | |
Förderschule sehen. Ihrer Meinung nach sei ich dort geschützter vor | |
Anfeindungen. Ob sie mich tatsächlich schützen wollte oder meine | |
zukünftigen Mitschüler vor mir – das ist mir bis heute nicht ganz klar | |
geworden. Denn auch unter meinen Mitschülern gab es viele, die glaubten, | |
ich sei von den LehrerInnen übervorteilt und sie – im Umkehrschluss – | |
benachteiligt worden. | |
Ein Beispiel: Ich bin in der neunten Klasse, auf einem Sofa mir gegenüber | |
sitzt eine Gruppe Mädchen aus meiner Klasse. Ich werde von ihnen heftig | |
gemobbt. Durch meine Gesichtsmuskellähmung klingt meine Sprache manchmal | |
verwaschen. Dies nehmen meine Mitschüler zum Anlass, mich zu hänseln und | |
nachzuäffen. Sie nennen mich „Monster“, weil es mir aufgrund meiner Lähmu… | |
schwerfällt zu lächeln. | |
Die Sozialpädagogin der Schule soll vermitteln. Jetzt sitzt sie neben mir | |
und bittet meine Mitschülerinnen zu sagen, was sie an mir mögen – und was | |
nicht. Ich sitze mit schweißnassen Händen da, fühle mich elend und habe den | |
Eindruck, vor einem Inquisitionskommando zu stehen. Die erste Schülerin: | |
„Na ja, sie ist ja als Mensch ganz okay, aber immer bekommt sie von den | |
Lehrern eine Sonderstellung eingeräumt …“ | |
Ganz ähnlich antworten auch die anderen Mädchen, und jedes Mal fragt mich | |
die Sozialpädagogin: „Was sagst du denn dazu, Sandra?“ Ich schaue sie | |
ratlos an. Was soll ich zu solch klischeehaften Ansichten schon sagen? Ich | |
werde von den Lehrern genauso behandelt wie die anderen Schüler. In solchen | |
Momenten erkenne ich, wie weit die Realität im Klassenzimmer entfernt ist | |
vom Ideal eines selbstverständlichen Nebeneinanders von Schülern mit und | |
ohne Behinderung. | |
2008 habe ich mein Abitur gemacht, mit einem Schnitt von 2,0. Momentan | |
schreibe ich an der Universität Potsdam meine Masterarbeit in Germanistik. | |
Der rot-rot-grünen Koalition gefällt die Idee der inklusiven Schule: ein | |
Pilotprojekt, bei dem zunächst 36 Schulen zu sogenannten inklusiven | |
Schwerpunktschulen ausgebaut werden, soll nur ein Zwischenschritt sein, bis | |
irgendwann jede Schule in Berlin ganz selbstverständlich behinderte und | |
nichtbehinderte Kinder unterrichtet. | |
Mir gefällt diese Idee auch: dass Kindern mit Behinderung – beziehungsweise | |
ihren Eltern – die Wahl gelassen wird, für welche Schulform sie sich | |
entscheiden. Ob es gelingen wird, den Lehrern wie auch den Schülern diesen | |
Inklusionsgedanken im täglichen Unterricht zu vermitteln? Das wird auch | |
davon abhängen, wie souverän die LehrerInnen in der Lage sind, damit | |
umzugehen – und zwar nicht nur die SonderpädagogInnen, sondern alle | |
LehrerInnen und ErzieherInnen. Da braucht es Weiterbildungen, sonst bleibt | |
die Inklusion nur Theorie und kommt nicht im Klassenraum an. Denn ein | |
Nebeneinandersitzen bedeutet eben noch nicht ein Miteinanderlernen. | |
Sandra Hertzke, 28, ist Praktikantin in der Berlin-Redaktion der taz | |
4 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Sandra Hertzke | |
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