# taz.de -- Sightseeing in leichter Sprache: Einfach gut erklärt | |
> Die erste „Stadtrundfahrt in leichter Sprache“ für Menschen mit geistiger | |
> Behinderung hat am Samstag die Testfahrt erfolgreich absolviert. | |
Bild: Prüfsiegel für leichte Sprache | |
Die meisten der doppelstöckigen Sightseeing-Busse, die an diesem diesigen | |
Samstagmittag am Hardenbergplatz stehen, sind leer. Es ist kein gutes | |
Wetter für Stadtrundfahrten. Nur einer ist fast bis auf den letzten Platz | |
besetzt: [1][„Stadtrundfahrt in leichter Sprache“] steht auf einem Schild | |
im Fenster. Rund 50 Menschen mit unterschiedlich schweren geistigen | |
Behinderungen sitzen darin, dazu 13 BetreuerInnen der Wohngemeinschaften | |
des Union-Hilfswerks, in denen diese Menschen zusammen leben. | |
Rita Hübenthal-Montero arbeitet ebenfalls als Betreuerin einer solchen WG, | |
allerdings vor allem im Winter. Im Sommer liegt ihr Schwerpunkt auf ihrem | |
anderen Job: Seit 16 Jahren führt sie Touristengruppen durch Berlin und | |
Potsdam. „Vor einiger Zeit ist mir aufgefallen, dass es so ein Angebot für | |
unsere Bewohner nicht gibt.“ | |
Komplizierte Namen, vorausgesetztes historisches und politisches Wissen, | |
sehr viel Information in kurzer Zeit: Die üblichen Stadtführungen sind für | |
Menschen mit geistiger Behinderung kaum zugänglich. Hübenthal-Montero | |
beschloss deswegen, ihre beiden Tätigkeiten zu verbinden und Stadtführungen | |
anzubieten, die speziell auf Gruppen von Menschen mit geistiger Behinderung | |
zugeschnitten sind. Die heutige Fahrt ist die erste, alle TeilnehmerInnen | |
kommen vom Union-Hilfswerk – eine Art Testlauf mit den eigenen Leuten. | |
City West, Potsdamer Platz, East Side Gallery, Brandenburger Tor: Der Bus | |
fährt die Standard-Stationen einer Stadtrundfahrt ab. Hübenthal-Montero, | |
mit dem Mikrofon in der Hand vorne im Bus, spricht aber anders als sonst: | |
„Weil die Kirche nach dem Krieg so kaputt war, sollte sie weggemacht | |
werden. Aber die Berliner haben gesagt: Nee nee, die bleibt hier!“, erklärt | |
sie, als der Bus an der Gedächtniskirche vorbeifährt. Und sie passt die | |
Inhalte an: „Normalerweise rede ich bei Stadtführungen für Berliner nicht | |
viel über die Mauer, weil das ja bekannt ist, heute habe ich das aber mit | |
reingenommen“, sagt sie. | |
## Schwierige Themen nicht ausgespart | |
An die strengen Regel für leichte Sprache, die ein gleichnamiger Verein | |
definiert hat und die zum Beispiel vorschreiben, möglichst keinen | |
Konjunktiv zu verwenden und nur in Hauptsätzen zu sprechen, hält sie sich | |
dabei nur teilweise. „Ich glaube, viele unserer Bewohner würden mir einen | |
Vogel zeigen, wenn ich so mit ihnen rede, weil sie das überhaupt nicht | |
gewohnt sind.“ | |
Stattdessen orientiere sie sich daran, wie man mit einem zehnjährigen Kind | |
sprechen würde: einfach und verständlich, aber auch nicht unterkomplex. | |
„Ich darf die Teilnehmer auch nicht unterfordern, sonst langweilen die | |
sich.“ Perspektivisch will sie das Niveau je nach Teilnehmergruppe | |
anpassen, schließlich gibt es innerhalb der Gruppe von Menschen mit | |
geistigen Behinderungen große Unterschiede. | |
Auch schwierige Themen werden nicht ausgespart: Als der Bus am Denkmal für | |
die Euthanasie-Opfer der Nazizeit am Kulturforum vorbeikommt, erklärt | |
Hübenthal-Montero, was es damit auf sich hat – in verständlicher Sprache, | |
aber ohne zu beschönigen. | |
Die Stimmung im Bus ist gut, die TeilnehmerInnen hören konzentriert zu und | |
freuen sich, wenn sie Sehenswürdigkeiten wiedererkennen. „Ich weiß ganz | |
viel schon aus der Schule, aber Rita erklärt es noch mal anders“, sagt | |
Gerrit, der neben seinen Mitbewohnern im Oberdeck sitzt. | |
## Pierre bekommt Applaus | |
Als der Bus durch die Kreuzberger Oranienstraße fährt, darf Pierre ans | |
Mikrofon, der hier in einer WG wohnt: In Kreuzberg gibt es viele Kinos und | |
schöne Plätze, sagt er, nur die Drogendealer nerven ihn, die würde er gern | |
abschaffen. Am Ende bekommt Pierre Applaus, den er verlegen lachend | |
abwehrt, dass er gleichzeitig ganz schön stolz ist; das sieht man ihm an. | |
Mit dem ersten Testlauf ist Hübenthal-Montero zufrieden – und gleichzeitig | |
gespannt, was ihr die anderen BetreuerInnen aus den Gesprächen hinterher | |
berichten werden: Wie viel von den Informationen bleibt hängen, was war | |
vielleicht doch noch nicht verständlich? So tragen die TeilnehmerInnen | |
selbst dazu bei, dass das Konzept der Fahrten tatsächlich funktioniert. | |
5 Feb 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://berlin-in-leichter-sprache.de | |
## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
## TAGS | |
Leichte Sprache | |
Stadtgeschichte | |
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Inklusion | |
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