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# taz.de -- Gewerkschafter über Jobs bei Amazon: „Amazon will alleine entsch…
> Der Konzern expandiert, die Belegschaft rebelliert: Thomas Voss erklärt,
> wie die Amazon-Angestellten unter dem digitalisierten Taylorismus leiden.
Bild: Amazon-Logistikzentrum in Rheinberg in Nordrhein-Westfalen
taz: Herr Voss, der einst als Buchladen gestartete Online-Händler Amazon
will zum „Everything Store“ werden. Ist das überhaupt möglich?
Thomas Voss: Bei Amazon gibt es keine Grenzen, im Gegenteil. Das erklärte
Vorhaben von Amazon-Gründer Jeff Bezos ist es, in den entscheidenden
Märkten ein Monopol durchzusetzen. Dafür investiert Amazon auf Teufel komm
raus in neue Geschäfte: In Deutschland hat Amazon etwa den früheren
Baumarktführer OBI abgelöst, ist unlängst in den Handel mit frischen
Lebensmitteln eingestiegen und will bald auch mit Autos handeln. Zusätzlich
zu den Handelstätigkeiten produziert der Konzern bereits eigene TV-Serien
oder Smartphones und vergibt Kredite an Unternehmen.
Was macht das Geschäftsmodell Amazons derart wettbewerbsfähig?
Bei Amazon erledigen die Kunden zentrale Arbeitsschritte des Einzelhandels
per Mausklick. Sie tätigen die Bezahlung selbst und beraten sich
gegenseitig durch Produktbewertungen. Die Kosten für ausgebildete
Fachkräfte wie Kassierer oder Berater fallen somit weg. Amazon kann sich
dadurch auf die Optimierung der logistischen Tätigkeiten konzentrieren.
Hier verbindet das Unternehmen die Instrumente der Digitalisierung mit
einer tayloristischen Arbeitsteilung.
… das heißt, das Management schreibt den Mitarbeitern detailliert alle
Arbeitsschritte vor und erhöht so die Produktivität. Wie muss man sich das
bei Amazon konkret vorstellen?
Die Waren werden in Lagerhallen so groß wie mehrere Fußballfelder nach dem
Chaosprinzip gelagert. Der Computer teilt die Lagerpositionen der Produkte
auf den Regalen so ein, dass so wenig Platz wie möglich benötigt wird.
Folglich gibt es keine Abteilungen für Warengruppen; die Zahnbürste liegt
neben dem Autoreifen und den Kondomen. Einige Angestellte packen den ganzen
Tag die ankommenden Waren aus, registrieren sie per Handscanner und andere
räumen sie dann auf Anweisung ihres Handscanners in die Regale. Die
sogenannten Picker holen die bestellten Produkte aus den Regalen und
weitere Beschäftigte kümmern sich um das Beladen der Lkws. Durch die
kleinen, vom Handscanner gesteuerten Arbeitsschritte erzielt Amazon mit
viel weniger Menscheneinsatz bedeutend größere Umsätze als konkurrierende
Einzelhändler.
Wieso räumen Menschen und keine Roboter die Regale ein und aus?
In einigen Lagerhallen transportieren untertassenförmige Roboter bereits
Regale hin und her, was die Pickvorgänge noch effizienter macht. Für eine
komplette Automatisierung müssten Roboter jedoch Produkte
unterschiedlichster Größen und Formen greifen können, was bislang noch
nicht möglich ist. Aber Amazon hat bereits Roboterfirmen aufgekauft und
arbeitet mit Hochdruck daran, menschliche Arbeitskräfte vollständig zu
ersetzen.
Welche Auswirkungen hat die digitalisierte Arbeitsteilung auf die
Beschäftigten?
Sie müssen ihren Kopf komplett ausschalten, um die extrem monotonen
Tätigkeiten acht Stunden lang ausführen zu können. Die Leistungsvorgaben
sind dabei enorm: Ein Picker muss rund zwei Produkte pro Minute aus den
Regalen nehmen und in eine kleine Plastikwanne legen. Er rennt
computergesteuert durch die Lagerhallen und wird dabei permanent
kontrolliert, denn die Daten des Handscanners stehen den Vorgesetzten
jederzeit zur Verfügung. Überdurchschnittlich viele Amazon-Angestellte
leiden an psychischen Erkrankungen, was wir unter anderem auf die monoton
kontrollierten Abläufe zurückführen. Die Amazon-Bosse haben darauf ihren
Interessen entsprechend reagiert: Sie verteilen Gesundheitsprämien, damit
man krank zur Arbeit geht.
Kommen die Angestellten bei der Entlohnung besser weg?
Amazon bezahlt nicht die billigsten Gehälter in Deutschland, das muss man
sagen. Von den zehn bis zwölf Euro Stundenlohn kann man einigermaßen leben
– wenn man eine Familie hat, wird es schon schwieriger. Bei Amazon ist in
erster Linie eine hohe Flexibilität bei der Anzahl der Beschäftigten
entscheidend, da die Bestellvolumina stark schwanken. Rund 15 Prozent der
Belegschaft haben Teilzeitjobs und 20 Prozent sind befristet angestellt,
normalerweise für ein Jahr. Für die Weihnachtszeit kommen nochmals 100
Prozent Saisonkräfte hinzu, um für zwei Monate die Umsatzgipfel zu
bewältigen. Amazon hat seine Standorte ganz gezielt in strukturschwachen
Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit errichtet. Dort können Arbeiter ohne
wirkliche Qualifizierung Arbeit finden.
Amazon schafft also neue Arbeitsplätze. Was kritisieren Sie daran?
Wir finden es gut, dass Amazon neue Jobs schafft. Doch wir wehren uns gegen
eine Unternehmensphilosophie, die prinzipiell Gewerkschaften ignoriert und
durch eine verschachtelte Firmenstruktur kaum Steuern bezahlt, obwohl die
Infrastruktur der Standorte in der Regel von Kommunen oder Bundesländern
bezahlt wird. Wenn Amazon kaum Steuern bezahlt, fehlen Mittel im
Gesundheits- und Rentensystem, um für die durch die schlechten
Arbeitsbedingungen verursachten Schäden aufzukommen.
Was heißt das, „Amazon ignoriert Gewerkschaften prinzipiell“?
Amazon weigert sich, Tarifverhandlung mit Verdi aufzunehmen; der Konzern
will alleine über die Arbeitsbedingungen entscheiden. Die Geschäftsleitung
behauptet, die Wünsche der Angestellten zu erfüllen, ohne jemals mit einer
kollektiven Interessenvertretung verhandelt zu haben. Es herrscht eine
scheinbare Lockerheit und Fröhlichkeit; die Chefs werden geduzt und sind
gerne zum Gespräch unter vier Augen bereit. In Wirklichkeit steckt dahinter
die Überlegung, dass man mit dem Einzelnen machen kann, was man will. Uns
bleibt also nur das Streiken: Wird der Lieferfluss gestört, muss Amazon
zwangsläufig auf die Interessen der Arbeiterschaft eingehen.
In dieser Woche haben Sie in Standorten in Nordrhein-Westfalen, Bayern,
Hessen und Sachsen gestreikt. Was bewirken Sie denn mit Ihren
Arbeitskämpfen?
In sieben der neun Standorte Deutschlands wird die Arbeit regelmäßig
niedergelegt. Mittlerweile ist fast ein Drittel der Amazon-Belegschaft
hierzulande gewerkschaftlich organisiert. Das ist beachtlich hinsichtlich
des hohen Anteils von Angestellten mit Teilzeit- oder befristeten
Verträgen. Ihnen winkt eine weitere Beschäftigungszeit nur dann, wenn sie
fleißig sind und sich an die Regeln halten. Seit einigen Jahren sind unsere
Streiks nicht mehr bloß öffentlichkeitswirksam, sondern auch wirtschaftlich
erfolgreich: Mittels Zeichen von Vertrauensleuten unter den Angestellten
können wir heute aus der Schicht heraus die Arbeit niederlegen. Dank diesen
für Amazon unberechenbaren Ablaufstörungen erreichten wir mehrere
Lohnerhöhungen in den letzten Jahren.
Warum konnten Sie damit die Geschäftsspitze bislang nicht zu
Tarifvertragsverhandlungen drängen ?
Unser Problem ist, dass wir es mit einem globalen Titan zu tun haben: Wenn
deutsche Standorte die Arbeit niederlegen, kann Amazon die Lieferungen
innerhalb von zwei bis drei Stunden nach Polen oder in die Tschechische
Republik auslagern. Die dortigen Standorte dienen ausschließlich der
ergänzenden Belieferung des deutschen Marktes. Wenn deutsche Standorte
streiken, ist es also gut möglich, dass die bestellte Bohrmaschine aus
Polen versandt wurde – der Kunde merkt keinen Unterschied. Wir können
Amazon am besten unter Druck setzen, wenn aus unserem deutschen
Arbeitskampf ein europäischer wird. Deshalb arbeiten wir überall dort, wo
Amazon Standorte hat, mit den Gewerkschaften zusammen und streben gleiche
Standards für alle Europa-Standorte an.
Verstehen Ihre Mitglieder die Notwendigkeit grenzübergreifender
Solidarität?
Das verstehen sie durchaus, und ich bin sehr froh darum. Wir haben an den
deutschen Standorten selbst eine sehr internationale Stimmung mit bis zu 50
vertretenen Nationen. Einige fahren sogar auf eigene Faust nach Polen und
treffen dort polnische Beschäftigte. Dabei merken sie, dass sie die
gleichen Interessen haben, unter ähnlichen Bedingungen arbeiten und für
einen erfolgreichen Arbeitskampf voneinander abhängig sind. Ich bin auf
jeden Fall optimistisch; unsere Beschäftigten sind kampflustig und wollen
teilweise sogar mehr streiken, als uns recht ist.
13 Jul 2017
## AUTOREN
Dario Dietsche
## TAGS
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