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# taz.de -- Tuberkulose in Osteuropa: Nationaler Notstand
> Multiresistente Tuberkulosekeime sind auf dem Vormarsch. Es fehlen
> Fachärzte. Infizierte können sich oft die sehr teure Therapie nicht
> leisten.
Bild: Tuberkulosepatient auf einer TBC-Station in Bălṭi, Moldawien
Berlin taz | Gerade ist Christoph Lange aus Armenien zurückgekehrt, in
wenigen Wochen wird der Arzt und Biologe in die Republik Moldau aufbrechen.
Seine Reisen nach Osteuropa ähneln sich: Vor Ort macht er sich ein Bild in
Krankenhäusern und Laboren, trifft Wissenschaftler, Kollegen und Patienten.
Lange und seine Kollegen suchen nach neuen Wegen, um die Tuberkulose in
Osteuropa zu bekämpfen. Trotz der wachsenden Resistenzen gegen Antibiotika,
trotz der mangelhaften Diagnostik, trotz der Arzneimittelpreise, trotz der
Korruption.
In Deutschland hat Lange, Jahrgang 1962, eine Professur für International
Health/Infectious Diseases an der Universität zu Lübeck und leitet das
Klinische Tuberkulosezentrum am Leibniz-Zentrum für Medizin und
Biowissenschaften im schleswig-holsteinischen Borstel. „Tuberkulose“, sagt
er, „ist ein Indikator dafür, wie die Gesundheitssysteme in Europa
funktionieren.“
Er klingt unaufgeregt, fast sanft, als er sein Urteil über die Behandlung
tuberkulosekranker Menschen in der Ukraine, in Weißrussland, in Moldau,
Armenien und Russland verkündet: „Wir haben es mit einem nationalen
Notstand zu tun.“
Nach wie vor ist die Tuberkulose eine der zehn häufigsten Todesursachen
weltweit; 1,8 Millionen Menschen sterben nach Angaben der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) jährlich daran. Besondere Sorge macht den
Gesundheitsexperten die Ausbreitung multiresistenter Formen der
Tuberkulose, gegen die Standardtherapien nicht mehr wirken, sondern
bestenfalls Reserveantibiotika. [1][Nach Angaben der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) (pdf-Datei)] haben sich zwischen 2009 und
2015 die multiresistenten Fälle unter den neu mit Tuberkulose Infizierten
in Europa mehr als verdoppelt; ein Drittel dieser Fälle wurde aus Osteuropa
gemeldet.
## Resistente Keime
In Russland etwa zählte die WHO im Jahr 2015 42.000 multiresistente
Infektionen bei 144 Millionen Einwohnern, in der Ukraine 12.000 bei einer
Bevölkerung von 45 Millionen, in Weißrussland 1990 bei 9,5 Millionen
Einwohnern und in Moldau 1.700 bei 3,5 Millionen Einwohnern.
Zum Vergleich: In Deutschland gab es im selben Jahr 125 derartige
Infektionen – bei 80 Millionen Einwohnern. Berechnungen der
US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC), die
unlängst in der Fachzeitschrift Lancet Infectious Diseases veröffentlicht
wurden, gehen davon aus, dass allein in Russland in zwanzig Jahren bald
jeder dritte Tuberkulosekranke von einer resistenten Form betroffen sein
wird.
„Die WHO und die G20 müssen sich auf die Multiresistenzen in Osteuropa
fokussieren“, fordert Lange. Aktuell hat sich die WHO auf die Fahnen
geschrieben, zunächst die Tuberkulose in den sogenannten
Niedriginzidenzländern, zumeist westlichen Industrienationen mit
exzellenten Gesundheitssystemen, bis 2035 zu eliminieren.
## Unrealistische Ziele
„Seit Beginn dieser Kampagne ist in Deutschland die Zahl der
Tuberkulosekranken aber migrationsbedingt um mehr als 30 Prozent
gestiegen“, sagt Lange. Obwohl die Tuberkulose auch weiterhin in
Deutschland eine seltene Erkrankung sei, sei Elimination aktuell nicht
möglich. „Viel besser wäre es, den Menschen in betroffenen Regionen
ausreichende Hilfe vor Ort zukommen lassen, statt im Westen unrealistischen
Zielen nachzugehen.“
Das Problem: Die Behandlung multiresistenter und extensiv-resistenter
Tuberkulose, im Medizinerjargon als MDR-TB beziehungsweise XDR-TB
abgekürzt, ist mit bis zu 90.000 Euro Therapiekosten nicht nur extrem teuer
und ohne finanzielle Unterstützung aus globalen Hilfsfonds für viele
staatliche Gesundheitssysteme nicht bezahlbar. Sie ist auch
nebenwirkungsreich und zeitaufwendig: Zwanzig Monate dauert es bei einer
M/XDR-Tuberkulose im Schnitt, bis die Bakterien, die allmählich die Lunge
zersetzen, erfolgreich bekämpft sind, zwanzig Monate tägliche, individuell
zugeschnittene Tablettencocktails, zwanzig Monate tägliche Spritzen.
„Eine solche Therapie durchzuhalten ist für viele unmöglich“, sagt Lange.
Viele Osteuropäer seien Arbeitsmigranten. „Sie können sich nicht leisten,
zwanzig Monate zu Hause zu bleiben.“ Die Folge seien Therapieabbrüche – und
damit verbunden die Rückkehr der Krankheit und die Zunahme der Resistenzen.
## Resistenzen nehmen zu
Aber das ist nicht alles. Viele Tuberkulose-Erreger lassen sich mit
herkömmlichen Antibiotika gar nicht mehr bekämpfen, und die Zahl der
direkten Ansteckungen mit diesen extrem resistenten Keimen wächst. „Man
müsste das Resistenzmuster bei jedem Patienten individuell bestimmen, dann
wüsste man, welche Antibiotika wirken“, sagt Lange. In Borstel ist das
möglich – aber nicht in Osteuropa, wo entsprechende Labordiagnostik kaum
zur Verfügung steht. Die Folge: Viele Patienten erhalten über Monate eine
Standardtherapie, ohne zu wissen, ob sie ihnen auch nur ansatzweise helfen
kann.
Daneben fehlt es an medizinischem Personal. Tuberkulosepatienten sind
ansteckend und bleiben lange in der Klinik. Das ist für die sie
Behandelnden unattraktiv, insbesondere in Ländern, in denen Ärzte im Monat
150 oder 200 Euro verdienen und ihr eigenes wirtschaftliches Überleben
absichern über ein korruptes „Out-of-pocket-payment-System“, das von den
Patienten eine direkte Zahlung an den Arzt verlangt.
Denn was in der Chirurgie oder der Geburtshilfe aus Sicht der Ärzte gut
funktioniert, erweist sich in der Therapie von Langzeit-Lungenpatienten als
wenig lukrativ. Die Folge: In Osteuropa sinkt die Zahl der
Tuberkulosespezialisten, es gibt zu wenige Anreize, sich für dieses
Fachgebiet zu interessieren.
5 Jul 2017
## LINKS
[1] http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/250441/1/9789241565394-eng.pdf?ua=1
## AUTOREN
Heike Haarhoff
## TAGS
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