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# taz.de -- Theater zum NSU in München: Bakterienbefallener Bodensee
> Beate Zschäpe gebiert ein Gehirn: zwei zeitpolitische Abende von Ersan
> Mondtag und Christoph Marthaler an den Münchner Kammerspielen.
Bild: Tina Keserovic als Beate-Zschäpe-Klon in Ersan Mondtags Inszenierung „…
Sechs Aliens auf der einen, acht Menschen auf der anderen Bühne. Die beiden
Bühnen trennen nur wenige Meter, die Regisseure ganze 36 Jahre. An dem
jüngeren, Ersan Mondtag, führt im formbewussten Theater der Gegenwart
gerade kein Weg vorbei. Der ältere ist Christoph Marthaler und hat mit
„Tiefer Schweb“ gerade erneut bewiesen, dass er kaum etwas richtig falsch
machen kann.
Sein surrealer Abend rund um einen Ausschuss, der auf dem Grund des
Bodensees über „Strukturkonzepte für nachhaltig fluide Lebensweisen auf
H2O“ berät und damit schwimmende Flüchtlingsunterkünfte meint, hatte am
Wochenende an den Münchner Kammerspielen Premiere.
Zwei Tage zuvor ließ Mondtag in der Kammer 2 Beate Zschäpe ins All fliegen.
„Das Erbe“ stammt aus der Feder von Olga Bach, aber auch Mondtag selbst und
der Videokünstler Florian Seufert haben mitgemischt. Und es geht in dieser
„Assoziation“, wie sie die Textsammlung nennen, so annäherungsweise um den
NSU wie in Marthalers „Tiefer Schweb“ um Migration.
## Heidegger und das Volkslied
Beide Abende umschiffen ihr Thema großzügig, kommen lustvoll vom Hölzchen
aufs Stöckchen und von einen Zitat zum nächsten. Auch wenn sich Marthaler
eher an Heidegger und natürlich das Volkslied hält, während sich unter den
rund 40 von Mondtag und Co angezapften Quellen Akten der Stasi und von
historischen Mordprozessen, Schiller, Sophokles und die Mini-Playback-Show
finden. An Kafka aber bleiben beide hängen. Denn die Mühlen der Bürokratie
mahlen hier wie dort schwerfällig und undurchschaubar.
Doch während Mondtags Projekt einen schrägen Abgesang auf den Menschen
anstimmt, hält Marthaler sanft die Sehnsucht nach ihm wach: Mag er auch
noch so unzulänglich sein. Das sieht man schon am Setting: Duri Bischoff
hat in die Kammer 1 einen holzgetäfelten Raum gebaut, in den über einen
großen grünen Kachelofen so manche Überraschung drängt: Menschen mit
verrückten Trachten, Plastikmüll oder ein Taucher, der Kekse bringt.
## Abgesang auf den Menschen
Die Kammer 2 dagegen füllt ein schwarzer Guckkasten mit einem
(Video-)Fenster, in dem sich die Erde entfernt. In zwei „Bilderrahmen“
rührt sich der Menschlichkeitsrest: Die privaten Gesichter der
Schauspieler, deren Züge gemorpht werden, sodass ein Gesicht ins andere
übergeht (Bühne: Rainer Casper, Videos: Florian Seufert). Die Wände zeigen
weiße Schemen von Büchern und Gemälden. Auch sie nur Projektionen,
Kulturbürgerzitate für Mondtags Theatergeisterbahn und Platzhalter für das
kulturelle Erbe der Menschheit, mit dem sechs rotgesichtige Wesen mit
platinblondem Stirnhaar und Spock-Ohren unterwegs sind zu einem anderen
Stern.
Schon beim Einlass empfangen einen die sechs mit chorisch geflüsterten
Zahlenkolonnen, die Exponate oder Beweismittel meinen. Daten von Kriegen
und Attentaten schälen sich heraus, deren Fakten sie emotionslos abrufen.
Stets wie von sehr weit weg, fiepsend, flüsternd, singsangend. Und dann ist
da noch dieses nackte schweigende Mädchen mit der Bauchattrappe, das wie
Sigourney Weaver in „Alien 3“ mit neuem Unheil schwanger ist.
## Thema Schuld
Tina Keserovic sieht aus wie Beate Zschäpe, und ihre bloße Anwesenheit ruft
sämtliche Assoziationen zum Thema Schuld auf den Plan. Und „sämtliche“
meint ALLE von Adam und Eva über sexistische Backpulverwerbung bis zu Hartz
IV und Bushido. Auf die wenigsten davon wäre man selbst gekommen.
Manchmal geht schon innerhalb eines Satzes die Sinnbeziehung seiner Glieder
flöten.
Dann schält sich ganz konkret die Figur des Innenministers heraus, der
nichts kennen wollte von den Mordfällen an in Deutschland lebenden Türken
und Griechen als seine Aktennotiz. Und Zschäpe, die die Gräueltaten des
Nationalsozialistischen Untergrunds personifiziert, geht nicht mehr weg,
ist zwischendurch sogar ganz lieb, greint endlos wie ein Riesenbaby und
gebiert ein Gehirn.
Gespenstisch ist das Ganze, rätselhaft, nervtötend, inhaltlich überladen
und – natürlich – bildgewaltig. Und trotz manch lustig-überdrehter Szene …
deprimierend, dass man der Menschheit auf der Stelle zur Selbstauslöschung
raten möchte. Und als Erstes der Kunst, die hier ganz offensiv vor den
NSU-Opfern versagt, die sie mit allzu viel allzu Banalem in einen Topf
wirft.
## Marthalers Feier der Kunst
Marthaler dagegen feiert sie, die Kunst, sanft und ironisch wie immer. Sein
Abend, benannt nach der tiefsten Stelle des Bodensees, ist wie Heimkommen
ins Berlin der 90er. „Fein sein, beinander bleibn“ summt es da durch einen
muffigen Raum, in dem die Münder grauer Beamtenseelen leise Bloppgeräusche
machen.
In der „Klausurdruckkammer 55b“ wird sich vor all dem gedrückt, was verbal
durch den Abend geistert: vor der „bedrückenden Faktenlage“, der
Untersuchung der „Migrationskompatibilität“ des Dreiländerecks
Deutschland/Österreich/Schweiz, vor „raschen und guten Ergebnissen“.
## Pissoirs als Verstärker
Man macht das mit marthalerischem Singen – wenn’s sein muss, werden dabei
Pissoirs als Verstärker vors Gesicht gehalten – oder durch Philosophieren
beim Pinkeln. Ueli Jäggi dröhnt dunkel „A Whiter Shade of Pale“, Jürg
Kienberger sehr hoch Bach – und auch die vier Kammerspielakteure finden
sich gut ein in diesen skurrilen Kosmos, für den es Szenenapplaus gibt,
wenn Hassan Akkouch als „eingebayerter“ „Tamino aus Illyrien“ die Zutat…
der Weißwurscht herbeibetet.
Der Beifall für Letzteres ist ein wenig billig verdient. Und allzu leicht
lässt sich die subkutane Bosheit dieses umjubelten Abends vergessen, der,
statt von „Flüchtlingen“ zu sprechen, sich steigernde Horrormeldungen vom
Bakterienbefall des Bodensees verbreitet. Dennoch: Zwei anregende,
diskussionswürdige Arbeiten für das angeknackste Image von Matthias
Lilienthals Haus!
27 Jun 2017
## AUTOREN
Sabine Leucht
## TAGS
Theater
Kammerspiele München
Christoph Marthaler
Schwerpunkt Rechter Terror
Lesestück Interview
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Thalia-Theater
Lesestück Recherche und Reportage
Rechtsextremismus
Theatertreffen 2017
Christoph Marthaler
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