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# taz.de -- Marthaler-Abend in Hamburg: Der Surrealist auf dem Fahrrad
> Der Regisseur kombiniert Bach-Suiten mit Abba-Songs und Volksliedern.
> Doch der Abend hangelt sich nur von einem Liebeslied zum nächsten.
Bild: Verrenkungen um, unter und auf Barhockern sind fester Bestandteil des Abe…
Ein kosmischer Sonnenwind ist der Grund. Zunächst sorgt er nur für einen
kurzen Stromausfall. Dann aber muss die Veranstaltung abgesagt werden.
Geplant war, so ein Hinweisschild, eine Konferenz zu „Übermann oder Die
Liebe kommt zu Besuch“. Im Saal 2. Leider müsse jetzt der angekündigte
Titel eliminiert werden. Und leider, gibt eine Computerstimme zu verstehen,
ziehe dieses unvorhersehbare Ereignis nicht nur den Verlust aller
„strombasierten Errungenschaften der vergangenen 150 Jahre“ mit sich,
sondern auch die Entmagnetisierung und damit Eliminierung aller männlichen
Tagungsteilnehmer.
Rosemary Hardy fackelt nicht lange. Gerade noch hatte sie als Garderobiere
jeden Einzelnen begrüßt, jetzt knibbelt und knabbert sie die Buchstaben vom
Veranstaltungsschild. Ungerührt. Der angekündigte Abend findet also nicht
statt? Ja und nein.
Schließlich ist es Christoph Marthaler, der am Hamburger Schauspielhaus mit
Assoziationen zu Alfred Jarry arbeitet. Da kommt zwar weder „Die Liebe auf
Besuch“ noch „Übermann“ – denn sämtliche (Über)männer sind ja berei…
verschwunden. Stattdessen schreiben sich neben Abhandlungen und Briefen des
1907 jung verstorbenen Jarry Texte von Gertrude Stein, Ilse Aichinger und
Nora Gomringer in die Inszenierung. Vor allem aber sind es die für
Marthaler typischen Mittel, die den Abend gestalten: angefangen bei
grotesken Choreografien hin zu der grandiosen Kunstfertigkeit, Bach-Suiten,
Abba-Songs, Volkslieder und Beethoven-Arien mit derselben Ernsthaftigkeit
und Hingabe darzubieten.
Die musikalische Leitung teilen sich Rosemary Hardy und Clemens Sienknecht,
beides langjährige Mitglieder der Marthaler-Familie. Letztgenannter
performt außerdem als bleichgesichtiger Glatzkopfgott im seidenen
Morgenmantel am Piano. Er wurde „vom Sonnenwind hierher geworfen“. Immer
wieder bezieht sich Marthaler auf Jarry, den provokativen und durchweg
irritierenden Helden der Pariser Boheme, Vorreiter des Surrealismus. Da
schwirrt ein König-Ubu-Kostüm (Sara Kittelmann) vorbei, tritt Jarry als
passionierte Radler (Marc Bodnar) auf, wird ein Fahrrad zum
Anschauungsmodell – „Kann ein Reifen sterben?“ – und in verschwurbelten
Monologen die Pataphysik verhandelt, die von Jarry 1893 erfundene
„Wissenschaft imaginärer Lösungen“. Die geisterte als Gegenmodell zu den
Welten der rationalen Wissenschaften durch die Avantgarden des 20.
Jahrhunderts.
## Verloren in der Musik
Sechs Darstellerinnen (Sachiko Hara, Rosemary Hardy, Anja Laïs, Sasha Rau,
Bettina Stucky, Gala Othero Winter) bespielen die Bühne. Nein, noch
häufiger singen sie starr aufgerichtet an der Rampe stehend oder verrenken
sich auf Barhockern. Was ein bisschen schade ist, denn wie üblich hat Anna
Viebrock einen großartigen, hallenartigen Raum entworfen, vergilbte
Kindertapeten, versenkbare Tresen mit zahllosen Schubladen und etliche
Barhocker inklusive. Wie sich dieses Bühnenbild lautlos, fast ballettartig
durch Raum und Zeit schiebt, wie es langsam ein atmendes Eigenleben zu
entwickeln scheint, während Sienknecht sich an einem verwirrenden Vortrag
über die Gegenwart, Zeit und Materie versucht, gehört zu den
eindrucksvollsten Momenten des Abends.
Oft, zu oft aber verliert sich Marthaler in der Musik und – man kann es ihm
nicht verdenken – in der fantastischen Stimme von Rosemary Hardy. So
schleppt sich die Inszenierung bald von einem Liebeslied zum nächsten, von
einer Sehnsuchtsmelodie in die andere. An diesem vorrangig musikalischen
Abend fehlt der schrullige Leerlauf, die kluge Komik des
Marthaler-Ensembles. Trotzdem ist es schön, zu erfahren, dass Christoph
Marthaler am Dienstag der International Ibsen Award, der weltgrößte
Theaterpreis, dotiert mit 2,5 Millionen Kronen (rund 260.000 Euro), vom
norwegischen Kulturministerium zugesprochen wurde. Tusch!
21 Mar 2018
## AUTOREN
Katrin Ullmann
## TAGS
Christoph Marthaler
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