# taz.de -- Die Wahrheit: Mein Leben in Boomtown | |
> Wohnen in Berlins Prenzlauer Berg. Das ist heute schon ein klein wenig | |
> anders als zu jener Zeit, da plötzlich im Rücken eine Mauer fiel. | |
Bild: Typisches Treppenhaus in Cottbus führt zu Sinnesverwirrung der Ortsinsas… | |
In den Neunzigern fanden die Späterben aus dem Westen ihre rückübertragenen | |
Häuser im Osten zwar nicht gerade in Schutt und Asche, aber doch mit der | |
Patina von vierzig Jahren Kollektivwirtschaft vor. Ich wohnte mit meinem | |
kleinen Sohn in einer besetzten Bude auf dem sagenumwobenen Prenzlauer Berg | |
in Berlin, heizte fluchend mit Kohle und machte mir ansonsten keinen Kopf. | |
Obwohl nicht direkt als Kommune postuliert, versuchten wir sechs Parteien | |
in dem seit Kriegsende weitgehend von Renovierungsarbeiten unbehelligt | |
gebliebenen Gebäude gemeinsam unsere Kinder groß zu kriegen. Durch die | |
polyamore Nachbarschaftshilfe leicht verwischter Familiengrenzen kamen wir | |
gut durch die Wendewirren. Es war eine schöne Zeit. | |
Doch bald standen sie da: die Hausbesitzer. Angereist aus – und das glaubt | |
mir immer keiner – Wanne-Eickel. Ich hatte diesen Städtenamen bis dahin | |
eher für einen Gag gehalten, aber das mittelalte Pärchen, Erben von Tante | |
Trudes durch die DDR enteigneten Gründerzeithauses, war von dort leibhaftig | |
erschienen und kniff die Augen zusammen. Was hatten sie darben müssen als | |
Steuerberater in der Provinz, abends immer sehnsuchtsvoll Tante Trude ihr | |
klein Häuschen im dunklen Osten in ihre Gebete einschließend . . . | |
Wahrscheinlich war es von Kommunisten bewohnt! Wusste man doch! Nur | |
Nomenklatura in Berlins Nordosten! Hatte man sich auf Schusswechsel | |
einzustellen? Waren Leichen von tapferen Dissidenten in den Kellerboden | |
einbetoniert? Wurde die Treppe regelmäßig gefegt? | |
Angesichts der Lage beriefen wir in der größten Wohnung eine | |
Mieterversammlung ein. Steuerberater waren auf Spontanität und | |
Gastfreundschaft nicht vorbereitet, hatten noch nicht gegessen und ihre | |
Kippen im Auto gelassen. So schlauchten sie sich notgedrungen durch den | |
Abend und versprachen am Ende ermattet, uns alle weiter im Haus wohnen zu | |
lassen . . . | |
Wie immer kam alles anders. Niemand von der alten Truppe ist heute, nach | |
all der Zeit, noch dort. Und auch meine jetzige Wohnung, immer noch im Kiez | |
gelegen, wird langsam, aber sicher unbezahlbar für mich. Ganz davon | |
abgesehen, dass der Baulärm der Lückenbebauung gegenüber seit drei Monaten | |
ins Brüllende changiert und mich aus dem Haus treibt. Ich komme gar nicht | |
dazu, meine teure Miete abzuwohnen. | |
Neulich schaute ich mir die Werbe-Website des zukünftigen Gebäudes an. Neue | |
Nachbarn, „Nutzer im High-End-Wohn-Segment“, werden mir in Aussicht | |
gestellt. Das Bauwerk wird etagenweise verkauft. Eine Etage soll eine | |
knappe Million Euro kosten. Für das Geld bekam man zu Wendezeiten eine | |
Villa am Wannsee mit zwölf philippinischen Angestellten drin! Fast wünsche | |
ich mir meine Hausbesitzer aus Wanne-Eickel zurück. | |
Früher hingen hier Transparente an den Ruinen: „Der Sozialismus siegt“. | |
Heute kleben überall Durchhaltezettel der Promo-Firma Yogi-Poster: „Leuchte | |
von innen!“ „Fuck!“ hat einer drunter geschrieben. Auch eine Möglichkeit. | |
20 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Stöhring | |
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