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# taz.de -- Die Wahrheit: Mein Leben im Marx-Jahr
> Vor dem Mietshaus im Prenzlauer Berg hält eine SUV-Flotte. Kein gutes
> Zeichen. Es droht ein Rendezvous mit einer besitzergreifenden Lederhose.
Bild: Typisches Treppenhaus in Cottbus führt zu Sinnesverwirrung der Ortsinsas…
Der Sommersonntag ist sonnig und seidig, mein alter Studienfreund S. schaut
vorbei, es gibt Himbeerbrause auf dem Balkon. Vor über dreißig Jahren
hatten wir gemeinsam in meiner nur symbolisch beheizbaren Studentenbude den
„Achtzehnten Brumaire“ in der Marx-Engels-Gesamtausgabe, Band 11,
durchgeackert. Hitzig diskutierten wir Beispiele für Hegels These „Die
Geschichte wiederholt sich immer zweimal“ und für Marx’ Zufügung “… e…
als Tragödie, das andere Mal als Farce“.
Wir studierten Kulturwissenschaften und Philosophie und ließen morgens den
Maschinenbau- und Medizinstudenten gern den Vortritt in den Straßenbahnen
zur Uni. Seminare waren ab dem späten Vormittag akzeptabel, und so
schlüpfte ich immer erst auf die Straße, wenn der Tag und damit der
Tourismus in vollem Gange war.
Für unsere direkt durch die Mauer durchschnittene Straße in Prenzlauer Berg
bedeutete das, von den Aussichtstürmen der westlichen Seite beäugt und
fotografiert zu werden wie die Erdmännchen im Zoo. Je nach aktueller
Gemütslage machten wir mal freundliche, mal ruppige Gesten in Richtung der
dicken bayerischen Schulkinder auf den Treppchen, die sich jedes Mal zu
erschrecken schienen über die Unberechenbarkeit der grauen Ossis.
Heute gehöre ich noch immer zu den letzten putzigen Ureinwohnerinnen der
Gegend, und wenn das Schicksal nicht doch noch einen Gestütsbesitzer aus
der Provence vorbeischickt, kann das meinetwegen gern so bleiben. Die
Glücksquelle einer jeden Großstadtmieterin heißt „alter Mietvertrag“. Als
beneidete Besitzerin eines solchen wähnte ich mich in relativer Sicherheit.
Nun aber halten Autos unsympathischer Marken vor dem Haus, und die dazu
passenden Besitzer mustern die Fassade und uns Einwohner auf den Balkons
jovial und mit einem gewissen Besitzerstolz. „Das Gefühl, so beglotzt zu
werden, kommt mir irgendwie bekannt vor“, knurrt S., verkneift sich aber
jede Geste in Richtung der SUV-Flotte.
Bald steckt ein Brief der neuen Eigentümer im Kasten. Die Förderung für
unsere Wohnungen sei abgelaufen, der Milieuschutz beendet. Sie schreiben
nicht, dass nun andere Saiten aufgezogen würden. Sie formulieren dezent:
„Was das für Ihre Wohnung bedeutet, würden wir Ihnen gerne in einem
persönlichen Gespräch verdeutlichen.“
Ich freue mich riesig auf dieses Rendezvous. Vor allem, wenn es mit der
Lederhose stattfindet, die das Haus fotografierte und überhaupt gar nichts
dabei fand, dass ich nun auf diesen Fotos bin, einfach, weil ich nicht
schnell genug vom Balkon verschwunden war.
Am Abend spreche ich mit zwei Nachbarinnen über die Neuigkeiten. „Die
bayerischen Schulkinder sind zurück!“ Frau M. aus dem dritten Stock spricht
von einer Farce. Die Rentnerin neben mir ist Anfang neunzig. „Für mich ist
es ein Tragödie“, sagt sie leise. Und Karl Marx hat’s mal wieder gewusst.
24 Jul 2018
## AUTOREN
Ulrike Stöhring
## TAGS
Mieten
Prenzlauer Berg
Emanzipation
Milieuschutz
Unterkunft
Handwerk
Wohnen
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