Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Wiener Blut, Wiener Mut
> In der Hauptstadt des kotelettförmigen Landes Österreich wird
> Kapitalismuskritik großgeschrieben und der Kapitalismus im Kleinen
> zelebriert.
Als ich am Montagmorgen im schicken Wiener Hotel de France erwache, glaube
ich im ersten Moment an einen Feueralarm. Laute Männerstimmen und
bollerndes Gepolter ist zu hören, schnell reiße ich die Zimmertür auf. Eine
Horde hoher russischer Militärs bevölkert den Flur. Die Herren Offiziere
sind behängt mit Orden und Frauen. Alle, Frauen wie Orden, blinken und
glitzern, dass es nur so eine Art hat. Die olfaktorische Mischung aus
schwerstem Parfüm und noch schwererem Restalkohol lässt mich zwar fast
ohnmächtig werden, aber die Szene ist so bizarr, dass ich die Tür erst
wieder schließe, als mir das von einem bulligen Personenschützer sehr, sehr
nahegelegt wird.
Während ich noch darüber nachdenke, wieso Militärs von zivilen Pitbulls
bewacht werden müssen, trete ich auf die Straße, um mir einen Kaffee zu
besorgen. Am Schottentor laufe ich einem niedlichen Studenten in die Arme,
der ein Plakat mit einem stilisierten Katzenkopf und der Aufschrift
„M.I.A.U.“ vor sich her trägt. Aus Angst vor tierschützerischer Agitation
versuche ich unauffällig abzudrehen. Da ich als Gast der kommoden Stadt
aber nicht unhöflich sein möchte, nehme ich sein Werbezettelchen entgegen
und verblüfft zur Kenntnis, dass sich hinter der herzigen Abkürzung
M.I.A.U. nichts mit Tieren, sondern die „Marxistische Initiative an Unis“
verbirgt, die mir den Kapitalismus erklären will.
Ich komme zwar aus dem Osten und bin entsprechend robust, aber die Mischung
aus russischer Armee und marxistischer Aufklärungsarbeit an einem
Montagmorgen im morbiden Wien ist selbst für mich irritierend. Den Zettel
meines beflissenen Agitators lasse ich diskret in den nächsten Papierkorb
fallen.
Doch welch ein bedauerlicher Fehler! Hätte ich mir nur noch einmal die
Gesetze kapitalistischer Mehrwertproduktion und entsprechender
Vermarktungsstrategien in Erinnerung gerufen, wäre ich ein paar Stunden
später vielleicht nicht dem Verkaufstalent einer sogenannten
Sales-Managerin am Flughafen zum Opfer gefallen.
Da ich bis zum Abflug noch Zeit habe, lasse ich mich arglos in den
Kundensessel eines Kosmetikstandes fallen. Eine dezent geschminkte Dame
segelt sofort auf mich zu, und als ich „Duppflhuber“ auf ihrem Namensschild
lese, bin ich zu entzückt für eine Flucht. „Unser Serum besteht aus den
kostbarsten Zutaten“, hebt sie an: „Collagen! Trüffel! Gold!“
Als diese verbal abgeworfenen Triggerbomben für Luxusweibchen bei mir
offensichtlich nicht einschlagen, ändert sie flugs die Strategie: „Ihre
Haut um die Augen braucht ganz besonders viel Aufmerksamkeit und Pflege.
Gönnen Sie sich was! Hier geht es um Selbstliebe! Wir Wiener haben die im
Blut. Haben auch Sie den Mut dazu!“
Mut, ihr Produkt zu kaufen, braucht es angesichts des Preises in der Tat.
Sehr viel Mut. Doch es gibt kein Entkommen, man will ja schließlich kein
Feigling sein. Als es vollbracht ist und ich weggehe, bin ich arm und fühle
mich ausgeraubt. Aber ich habe Wiener Mut im Blut. Und etwas Wut.
8 Nov 2016
## AUTOREN
Ulrike Stöhring
## TAGS
Wien
Kapitalismus
Kapitalismuskritik
Wohnen
Radio
Erziehung
Kapitalismuskritik
Alltagsleben
Altern
Schönheitswettbewerb
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Mein Leben in Boomtown
Wohnen in Berlins Prenzlauer Berg. Das ist heute schon ein klein wenig
anders als zu jener Zeit, da plötzlich im Rücken eine Mauer fiel.
Die Wahrheit: Auftragsmord und Biomöhre
Werbung im Radio ist die Pest. Einige Spots sind aber noch viel schlimmer
und lassen düstere Gewaltfantasien sprießen.
Die Wahrheit: Bei allen heiligen Höllenhunden
Wenn Mütter ihren Goldkindern das Lesen von „Tim und Struppi“ verbieten –
wegen des beachtlichen Alkoholkonsums der Nebenhelden.
Linker Kongress zu digitalem Kapitalismus in Hamburg: „Mut haben, die Zukunft…
Das „Ums Ganze!“-Bündnis diskutiert in Hamburg über Digitalisierung und
Kapitalismus
Die Wahrheit: Nachtrepublik Waschsalon
Fast wie im wirklichen Leben geht es zu im Waschsalon, wo man nicht nur den
Maschinen beim Schleudern durch das Dasein zusehen kann.
Die Wahrheit: Warnung an die Jugend
Beim Älterwerden stellt sich mancher körperliche Nachteil ein, die Ohren
aber sind noch verdammt gut – was wiederum ein Nachteil sein kann.
Die Wahrheit: Käufliche Liebe
Wer schickt Fotos seines Babys zu einem Schönheitswettbewerb, damit daraus
eine lebensechte Puppe entstehen kann?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.