# taz.de -- Die Wahrheit: Warnung an die Jugend | |
> Beim Älterwerden stellt sich mancher körperliche Nachteil ein, die Ohren | |
> aber sind noch verdammt gut – was wiederum ein Nachteil sein kann. | |
Bild: Gut gelaunt in den Herbst des Lebens? Der Alte mit seiner Schwiegertochte… | |
Das Blöde am Älterwerden sind die allmählich sichtbar werdenden Folgen | |
jahrelanger stiller Erosion. Der Prozess scheint zwar schleichend, aber | |
eines Morgens ist sie da, die tiefere Nasolabialfalte, die nächste | |
Jeansgröße. Schreckgespenster von einst wie Akne, Aufnahmeprüfung, | |
Ausschabung werden von neuen abgelöst: Arthrose, Alkohol und Alzheimer. | |
Die paar Jährchen dazwischen ohne auffälligen Befund, wo sind sie hin? | |
Jetzt wacht man auf und ist schon dankbar, wenn morgens noch alles leidlich | |
durchblutet ist. Während die Sehkraft sich bei mir schon seit Längerem in | |
Richtung höherer Dioptrien verabschiedet, bleiben die Ohren scharf. Das hat | |
nicht nur Vorteile! | |
„Also ich würd was machen lassen, wenn’s dann hängt“, kräht die eine | |
Grafikdesignerin um die dreißig der anderen Grafikdesignern um die dreißig | |
auf dem Spielplatz zu. Der hochwertige Nachwuchs liegt schlafend im | |
Kinderwagen, und ich frage mich, warum die hier trotzdem schon die Wege | |
verstopfen. Ich selbst bin mit meiner Enkelin da, gehe in der Gegend aber | |
gerade noch als nicht so doll erhaltene Spätgebärende durch. Und weil meine | |
Ohren noch bestens funktionieren, bin ich gezwungen, die Gespräche meiner | |
Nachbarinnen zu erleiden. | |
„Der Marc ist ja oft auf Dienstreise, auch länger, da kann ich mich unters | |
Messer legen, gar kein Problem! Und das wird dann mein kleines dunkles | |
Geheimnis. Da stehe ich auch dazu.“ Ich versuche erfolglos, die Jungmutter | |
durch Anstarren zum Schweigen zu bringen. | |
Nicht dass ich das Problem nicht verstünde. Marlene Dietrich und Greta | |
Garbo sollen Heftpflaster zur Hand genommen haben, um die zu weit gewordene | |
Gesichtshaut hinter Ohren und unter Perücken zu verstauen. Eine schmerzarme | |
und sparsame, wenn auch heute überholte Methode, sich und anderen längst | |
vergangene Jugend vorzuspielen. Und sicher haben sie das nicht jedem auf | |
die unoperierte Nase gebunden. Aber unter „dunklen Geheimnissen“ stelle ich | |
mir Spannenderes vor. Na ja, es hat jeder eine andere Vorstellung von | |
Abenteuer. | |
Viel anstrengender als Spielplatzgespräche sind akustische Belästigungen im | |
Kino, weil man so gar nicht wegkann. Gibt es eigentlich noch Elternhäuser, | |
wo den jungen Menschen der Unterschied zwischen heimischer Couch und | |
öffentlichem Raum erläutert wird? Popcornrascheln, Handypiepen, | |
Aneinanderherumlecken – alles kein Problem für mich. Aber sie quatschen! | |
Sie kommentieren den Film. Sie staunen laut. Sie geben ihre langweiligen | |
Meinungen von sich und ahnen nicht, in welche Gefahr sie sich begeben. | |
Liebe junge Freunde! Das Einzige, was ab Ende vierzig nicht dicker und | |
labbriger wird, ist das Nervenkostüm. Das wird dünner und gespannter. Ihr | |
werdet es nicht glauben, aber auch ich bin noch berufstätig und kann nicht | |
ständig auf die himmlische Ruhe der Nachmittagsvorstellung ausweichen. Wenn | |
euch also irgendwann eine böse mittelalte Frau aus dem Dunkel anfällt und | |
zum Schweigen bringt, dann bin ich das. Ich bin der Kino-Sniper. | |
23 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Stöhring | |
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