# taz.de -- Die Wahrheit: Von wegen heidnischer Osten | |
> Die Christianisierung ganzer Berliner Stadtviertel geht seit einiger Zeit | |
> unaufhaltsam vonstatten. | |
Dass Schwaben sich offenbar erst wohlfühlen, wenn sie auch in der | |
klassischen Mieterstadt Berlin ein Häusle gebaut haben, ist für eine | |
Ostberliner Ureinwohnerin wie mich nicht leicht. Baulücken sind nicht | |
unendlich vorhanden, und dann müssen die Autos ja noch irgendwohin. | |
Jede neue Tiefgarage in der Gegend wird von meinem Nachbarn Kalle als | |
„unser persönliches Stuttgart 21“ bezeichnet. Es sind die Ratten, die als | |
Vorboten der Apokalypse – aufgeschreckt vom Baulärm – die Kanalisation der | |
älteren Häuser entern und in Müllcontainern und Kloschüsseln den Frieden | |
früherer Jahre suchen. | |
Dieser Frieden ist auch einem unserer Quartiersirren abhandengekommen. Wir | |
nennen ihn „Krähe“, weil er auf seinen Streifzügen immer durch laute | |
Krächzgeräusche auffällt. Neulich traf ich ihn mit einer ausgewachsenen | |
Kanalratte im Arm, deren letztes Stündlein sichtlich bevorstand. „Krähe“, | |
von dem ich noch nie einen menschlichen Laut vernommen hatte, blickte | |
zwischen mir und dem schnaufenden Tier hin und her, senkte sodann seinen | |
Blick tief in meine Augen und bellte: „Los, bete für sie! Nur du kannst | |
es!“ Erschrocken über dieses Kompliment, suchte ich schnell das Weite. | |
Sollen sich doch die christlichen Häuslebauer um den Seelenfrieden der von | |
ihnen verschreckten Ostberliner Geschöpfe kümmern. | |
Ansonsten bin ich dringend dafür, dass Religion Privatsache ist, auch wenn | |
der Zustand der Welt und inzwischen auch der Stadt diesbezüglich wenig | |
Hoffnung macht. Zu Ostern zeigte die Verkehrsinformationszentrale, immerhin | |
betrieben von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, auf | |
ihren Tafeln Botschaften wie „Karfreitagsprozession am Brandenburger Tor“ | |
und „Pray for Bruxelles“. | |
In einem Haus in der Nachbarschaft, das vor dreißig Jahren nur noch von | |
„Der Sozialismus siegt“-Bannern zusammengehalten wurde, ist nun die | |
Heilsarmee daheim. Im Fenster hängt ein Schildchen, auf dem zu lesen ist, | |
dass Nietzsche tot sei. Mit schönem Gruß von Gott. Das kann man ja schlecht | |
bestreiten . . . das mit Nietzsche. | |
Muslime gehören hier im schwäbischen Teil Ostberlins eher nicht zum | |
Straßenbild, selbst Zeugen Jehovas trifft man häufiger. Und natürlich | |
Buddhisten. Sannyasins konkurrieren an den exponierten Kreuzungen mit | |
Tierrechtlern und Putinverstehern. Vor den Glaubenskriegern der Straße | |
flüchte ich mich nach Hause und in den privaten Konsum. Im Internet stoße | |
ich auf einen Onlinehändler, der mir „spirituelles Wohnen“ nahelegt. Ich | |
kann zwischen den farbenfrohen Antirutsch-Badvorlegern „Dankbarkeit“ , | |
„Unschuld“ und „Erwachen“ wählen. Alle gehalten im trendigen Mandala-S… | |
Vielleicht entscheide ich mich aber auch für das Modell | |
„Selbstverwirklichung“, das ist in der Farbigkeit noch offensiver. Die | |
Firma Westwing verspricht mir „Magie“ und „Meditation“ sowie eine | |
kostenlose Rücksendemöglichkeit. Wahrscheinlich für den Fall, dass es nicht | |
klappt mit der Unschuld oder der Selbstverwirklichung. | |
5 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Stöhring | |
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