| # taz.de -- Die Wahrheit: Alles meins, meins, meins | |
| > Es wird kuscheliger in unserer Gesellschaft, auch wenn oft das Gegenteil | |
| > behauptet wird. Warum sonst nennt sich eine Firma „Mein Bestatter“? | |
| Liebe Mitsenioren, erinnern wir uns gemeinsam an die wunderbar langsame, | |
| freundliche und längst untergegangene Fernsehsendung „Was bin ich?“, die | |
| den wonnigen Untertitel „Heiteres Beruferaten“ trug? Als wir Ossis der BRD | |
| beitraten, gab es beidseitig heiteres Abkürzungsraten. | |
| Neulich begegnete mir das Kürzel „MB“. Mercedes Benz? Müde Beine? Marburg… | |
| Bund? Mobbing-Beratung? Mümmel-Bäckchen? Suchen Sie sich was aus, es stimmt | |
| alles nicht. Die Abkürzung, die ich meine, steht für eine Dienstleistung, | |
| die man braucht, wenn man das alles längst hinter sich hat. Sie steht für | |
| „Mein Bestatter“. | |
| Das Bestattungshaus in Berlin wirbt mit diesem flotten, modern anmutenden | |
| Logo und baut auf den Drang des einsamen Großstadtmenschen, jede | |
| Dienstleistung zu personalisieren. „Mein Mann“ oder „meine Frau“ soll m… | |
| aus feministisch-menschenrechtlichen Gründen lieber nicht mehr sagen. Meine | |
| Hebamme aber, mein Vertrauenslehrer, mein Fußpfleger, mein Steuerberater | |
| und natürlich meine Hausärztin sorgen in den dafür vorgesehenen | |
| Lebensphasen für mein Wohlbefinden. | |
| Sie tragen auf ganz verschiedene Weise zu meinem Überleben bei, was sie | |
| aber verbindet, ist das vertrauenerweckende Wörtchen „mein“. Alle | |
| umklammern die gleiche Telefonmarke? Egal. „Mein Vodafone“ muss es schon | |
| sein. Meins, meins, meins … | |
| Ich bin leider nicht mehr in dem Alter, wo ich mit Beerdigungen nichts | |
| weiter zu tun hatte, als unter dem Tisch zu hocken und den immer trunkener | |
| werdenden Erwachsenen beim heiteren Trauern zuzuhören. Der aktuelle Stand | |
| ist: alte Verwandtschaft, seit Jahrzehnten rauchende Freunde, gebrechliche | |
| Bekannte – der Tod lächelt zahnlos herüber, und die Einschläge kommen | |
| näher. | |
| Wendet sich die Firma MB mithilfe ihres vertraulich klingenden Namens also | |
| an mich? Kann ich ab fünfzig Rabatt vereinbaren? Kriege ich einen | |
| Gutschein, wenn ich meinen Bestatter weiterempfehle und mit jemand anderem | |
| ein Vertrag zustande kommt? Und was steht da drauf? Highway to hell for | |
| free? | |
| Auch Kundenkarten kämen ja infrage. Sie verstopfen ganz wunderbar das | |
| Portemonnaie und vermitteln der Besitzerin durch ihr pures Gewicht das | |
| Gefühl von Wohlhabenheit. Die mit den Stempelchen zum Sammeln mag ich | |
| besonders gern. Die sind so retro, und ihre Erfinder wissen sicherlich | |
| nicht, wie sehr sie an das Konsummarkenkleben im Osten erinnern. | |
| MB kommt aber modern daher und verteilt sicher schicke Hightech-Kärtchen. | |
| Hat man die Pin vergessen, gerät man an eine von Trauermärschen unterlegte | |
| Hotline. Zur Überprüfung der Identität werden Sachen wie „Welche Farbe | |
| hatte das Holzbein ihres Großvaters?“ abgefragt. | |
| Ohnehin ist die Zeit allseits bekannter Berufe längst vergangen. Abdecker | |
| gibt’s nicht mehr, nicht mal mehr Bäcker. Bei einer bekannten Kette kann | |
| man sich neuerdings allen Ernstes als „Brotberater/in“ ausbilden lassen. | |
| Die Bäckersche hinterm Tresen ist dann „meine Brotberaterin“. Ein weiteres | |
| MB. | |
| 26 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Stöhring | |
| ## TAGS | |
| Tod | |
| Beruf | |
| Individualisierung | |
| Altern | |
| Schönheitswettbewerb | |
| Ostberlin | |
| Online-Shopping | |
| Versicherung | |
| Sucht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Wahrheit: Warnung an die Jugend | |
| Beim Älterwerden stellt sich mancher körperliche Nachteil ein, die Ohren | |
| aber sind noch verdammt gut – was wiederum ein Nachteil sein kann. | |
| Die Wahrheit: Käufliche Liebe | |
| Wer schickt Fotos seines Babys zu einem Schönheitswettbewerb, damit daraus | |
| eine lebensechte Puppe entstehen kann? | |
| Die Wahrheit: Von wegen heidnischer Osten | |
| Die Christianisierung ganzer Berliner Stadtviertel geht seit einiger Zeit | |
| unaufhaltsam vonstatten. | |
| Die Wahrheit: Liaison mit Dingen | |
| Wer einen Stimmhammer ins Haus geschickt kriegt, braucht sich über | |
| Liebeserklärung nicht zu wundern. | |
| Die Wahrheit: Sicher nicht versichert | |
| Warum der Beruf des Versicherungsvertreters junge Leute anzieht, ist | |
| genauso rätselhaft wie das Versicherungswesen an sich. | |
| Die Wahrheit: Anonyme Quarktaschenjunkies | |
| Ich bin abhängig. Meine Sucht hat mich und meine Familie ruiniert. Mein | |
| Leben ist ein einziges Trümmerfeld. Schuld ist ein fatales Gebäck. | |
| Die Wahrheit: Lasst alte Männer um mich sein | |
| Mein Mann hatte eine Affäre. Ich plane jetzt, mich zu rächen. Stilvoll mit | |
| Arno Schmidt. Ein Nachtrag zum 100. Geburtstag des Dichters. |