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# taz.de -- Die Wahrheit: Anonyme Quarktaschenjunkies
> Ich bin abhängig. Meine Sucht hat mich und meine Familie ruiniert. Mein
> Leben ist ein einziges Trümmerfeld. Schuld ist ein fatales Gebäck.
Er war gekommen, der berühmte Point of no return, und so bekannte ich mich
im Kreise meiner Lieben zu meiner Sucht. Diese war ohnehin unübersehbar,
denn die Löcher in der Familienkasse wuchsen proportional zu meinem
Hüftumfang. Es war klar, dass ich Hilfe brauchte, und mein schonungsloses
Bekenntnis galt als erster Schritt.
Wann hatte mein Weg in den Untergang, zu den Dicken und Armen dieser
Gesellschaft begonnen? In jenem verhängnisvollen Frühjahr, als in der
Nachbarschaft eine „Wiener“-Bäckerei der gleichnamigen prominenten
Nervensäge eröffnete, von deren Stoff in Form von Topfentaschen ich schnell
abhängig wurde. Dabei war der erste Schuss durchaus nicht umsonst, und
überhaupt hätte ich gewarnt sein müssen.
Das Lädchen tut sich bereits auf dem Bürgersteig mit Aufstellern wichtig,
die verkünden, dass der Kaffee aus einer Mischung von vier mittel- und
südamerikanischen Bio-Arabicas in italienischer Zusammensetzung sei.
Meinetwegen können sie die Geschlechtsteile des Südlichen Maiswurzelbohrers
mit vermahlen, der Kaffee interessiert mich nicht. Ich bin von den
Quarkdingern abhängig, mögen sie noch so österreichisch heißen und Démeter
mit Nachnamen. Dem Preis nach zu urteilen stammt die Füllung von bei
Neumond von Jungfrauen handgestreichelten Glückskühen, aber genau weiß man
es nicht.
In die gentrifizierte Gegend passt das gut, trifft man im Laden doch eine
Menge Neubürger. Gekränkt wirkende Endzwanziger, die den Besitz ihrer
Gründerzeitetage, Volvos und privaten Krankenversicherung für die ganze
Familie als „bescheidenen Wohlstand“ bezeichnen und deren einziges Problem
auf dieser Welt ihre Laktose-Intoleranz ist. Dennoch kaufen auch sie diese
Quarktaschen, womit mal wieder bewiesen ist, dass man sich seine
Mitpatienten nicht aussuchen kann.
Als der wachsende Druck am Hosenbund nicht mehr zu ignorieren war,
substituierte ich mit Möhrenschnittchen, was aber nicht recht gelang. Die
Blähungen machten einsam, tägliche Rückfälle deprimierten mich zutiefst.
Meine Bank rief an und wollte dringend reden. So konnte es einfach nicht
weitergehen.
Allabendlich besuche ich nun die Treffen der anonymen Backwarenabhängigen.
Bei Wasser und Gurkensalat teilen wir unsere Probleme miteinander. Unter
uns gesagt, als Quarktaschensüchtige blicke ich ein bisschen auf die
Dominosteinabhängigen, von uns zärtlich Domis genannt, herab. Nicht nur,
dass ihr Stoff der kalorienreichste und teuerste ist, sie haben auch noch
die Hälfte des Jahres Beschaffungsprobleme.
Auch die Zimties haben es nicht leicht. Schon der Anblick sternförmiger
Gebilde kann sie in den Rückfall treiben. Schwere Zimties erkennt man an
ihrer ockernen Hautfarbe und dem unverwechselbaren Geruch.
Aber es widerspricht den Prinzipien meiner Selbsthilfegruppe, über andere
zu reden. Ich will gesund werden, meine Finanzen und meinen Taillenumfang
sanieren, damit ich irgendwann die Katze und die Kinder aus dem Heim holen
kann.
9 Dec 2014
## AUTOREN
Ulrike Stöhring
## TAGS
Sucht
Tod
Versicherung
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