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# taz.de -- Die Wahrheit: Der gelbe Tod
> Poststellen verraten mindestens so viel über eine Stadt, den Wohlstand,
> ja sogar die Mentalität eines Volkes wie Bahnhöfe. ...
Poststellen verraten mindestens so viel über eine Stadt, den Wohlstand, ja
sogar die Mentalität eines Volkes wie Bahnhöfe. Hier wie dort möchten die
meisten Menschen nicht länger verweilen als unbedingt nötig. Mir geht es
anders. Wo immer ich fremd bin, suche ich beim Stadtbummel eine Post.
Unvergesslich ist mir die eisige Stille der einzigen, mit allerlei
Hightech-Schischi ausgestatteten Filiale des Mafiastädtchens Corleone. In
der Postbutze am Newskiprospekt von St. Petersburg hingegen schien sich
seit Dostojewskis Zeiten nichts, aber auch rein gar nichts geändert zu
haben. Schreibmaschinen, Stempelkissen, altes Holz und die vollkommene
Gottergebenheit der Leute beim Warten.
Vor Jahren beschloss die Deutsche Post, aus Effektivitätsgründen ihr
Filialnetz auf ein absolutes Minimum zu schrumpfen. Der Kunde jedoch mag
das nun nötige russische Wartephlegma nach wie vor nicht recht aufbringen,
weshalb sein nervöses Auge durch einen Parcours aus Ständern mit
Katzenkalenderchen, Holzeisenbahnen, Plakaten zur aktuellen Zinsentwicklung
abgelenkt werden soll. Leute, die ihr Geld einer Bank anvertrauen, die
Postbank heißt und ihre Offerten mit dem Charme von Elfjährigen an den Mann
bringt, müssen ein beneidenswertes Urvertrauen besitzen.
Die Vorweihnachtszeit birgt besondere Tücken. Neulich wähnte ich mich
schlau, meine kleine Anzahl von Päckchen schon jetzt gepackt zu haben. Nun
galt es, einen halben Tag frei zu nehmen, Thermoskanne und hartgekochte
Eier nicht zu vergessen und sich in die berüchtigte Filiale Torstraße,
Berlin-Mitte, aufzumachen. Denn wer es dort schafft, schafft es überall …
Dreißig junge Menschen, die es nie anders kennengelernt haben, stehen in
der Schlange, als ich eintreffe. Mein Lieblingspostler, ein Bärtiger kurz
vor der Rente, trägt jedes einzelne Päckchen mit der Feierlichkeit und dem
Tempo eines Urnenträgers vor sich her. Er ist Hamlet auf dieser Bühne. Lady
Macbeth ist ebenfalls besetzt.
Sie hat heute eine besonders grauenerregende Lidfarbe aufgelegt und
versucht seit Längerem einem mindestens so kriminell wie sie selbst
aussehenden Herrn zu erläutern, dass er mitnichten an das Konto seiner
Mutter käme. „Da brauchen wir den Totenschein!“, keift sie den Mann an. In
den unschuldigen Ohren von uns Wartenden klingt es wie ein Mordauftrag.
Die dritte Kollegin gibt das Käthchen von Heilbronn. Zu ihr gehe ich immer
am liebsten, wenn das Glücksrad, das die Diskretionsabstandsreihe
darstellt, es zulässt. Kuhäugig sanft bleibt sie selbst mit spanischen
Jungkiffern geduldig. Und sie zeigt bereitwillig Sondermarken, wenn ich
klage, dass ich den Selbstklebequatsch vom „Nationalpark Jasmund“ nicht
mehr sehen könne.
Aber noch trennen mich gute vierzig Minuten von einem der begabten Beamten.
Mir ist heiß, mir schwinden die Sinne … Ich will nicht sterben! Nicht
jetzt! Nicht hier! Bevor ich umsinke, gelten meine Gedanken meinen armen
Kindern. Wenn ihr mein Geld wollt, braucht ihr einen Totenschein …
19 Dec 2012
## AUTOREN
Ulrike Stöhring
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