# taz.de -- Jonathan Meese macht Wagner in Wien: Der Übermensch wird zur Ich-AG | |
> Ein Pamphlet als Oper? Meese ist aber kein Schlingensief. | |
> Neuinterpretationen von Mozart und Wagners „Parsifal“ auf den Wiener | |
> Festwochen. | |
Bild: Monumentale Bildkraft: Meeses Reim auf Parsifal | |
Auf dem Papier war die Rezeptur bestechend. Man nehme „Die Entführung aus | |
dem Serail“ (1782) – Mozarts sogenannte „Türkenoper“, projiziert in das | |
Reich der nach langen Kriegen aus Europa verdrängten Osmanen, eine | |
gefährlich-schöne, aber letztlich unterlegene Gegenwelt – und setze diese | |
angstlustgefärbte Vision des Exotischen der Erkundung aus einer | |
außereuropäischen Perspektive aus. | |
Die Idee stammt von Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen, die über Jahre in | |
Abidjan, Côte d’Ivoire, gearbeitet und einer dort entwickelten Theaterform | |
international Beachtung verschafft haben. Spoken Poetry, Tanz und | |
parodierendes Spiel verschmelzen darin zu einem hochdifferenzierten | |
theatralen Zeichensystem. Es nährt sich ausdrucksstark vom plebejischen | |
Spott über Sitten und Gebräuche einstiger KolonisatorInnen wie der sie | |
mittlerweile imitierenden städtischen Oberschichten. | |
„Les Robots ne connaissent pas le Blues oder Die Entführung aus dem Serail“ | |
lässt die SpielerInnen von Gintersdorf/Klaßen im Zentrum verflossener | |
europäischer Musikkultur landen. Die Produktion des Bremer Theaters, | |
eingeladen zu den Wiener Festwochen, legt es auf einen lustvollen und | |
gewaltfreien Clash of Cultures an. Bremer SängerInnen und das Ensemble | |
Camerata Salzburg geben Anspieltipps aus der Oper. Ted Gaier (Die Goldenen | |
Zitronen) legt elektronische Beats drüber. Das | |
Gintersdorfer/Klaßen-Ensemble extemporiert dazu. | |
Mit ernüchterndem Resultat. Auf die Hinterbühne der ehemals kaiserlichen | |
Reithalle im Museumsquartier verbannt, kommt vom exzellenten Orchester | |
vorne nur ein Greatest-Hits-Geschepper an, mit dem sonst namenlose | |
Ensembles ahnungslose TouristInnen in belanglosen Nachmittagskonzerten | |
beschallen. Die afrikanischen Künstler wirken mit ihren Lazzi, | |
humoristischen Einlagen, dagegen seltsam verloren. | |
## Mit mathematischer Akribie | |
Das Unbehagen an der Kultur, das sie vortragen, scheint nicht ihres zu | |
sein, sondern vielmehr das ihrer AuftraggeberInnen. Mozart hat ihnen nichts | |
oder nur wenig getan. Dieser Instrumentalisierung zur eigenen Kulturkritik | |
rutscht gerade jenes Exotismusklischee durch, das Mozart durch diese Übung | |
ausgetrieben werden sollte. Auch ist das Problem an bürgerlicher Hochkultur | |
nicht die Hochkultur. Was am Kulturkonsum der Bourgeoisie zu kritisieren | |
sein kann, wird durch popkulturelle Vereinfachung nicht verbessert. | |
In einem weiteren Fusionsformat überschreibt der österreichische Komponist | |
Bernhard Lang Richard Wagners „Parsifal“ für eine Uraufführung bei den | |
Wiener Festwochen. Die Regie hat Jonathan Meese bei diesem „Mondparsifal | |
Alpha 1-8“. Überschreibung ist hier schon für die Musik wörtlich zu nehmen. | |
Regelgeleitet und mit mathematischer Akribie gräbt sich Lang durch den | |
Notentext, legt darin den übergreifenden Bauplan frei, der im Original | |
unterm spätromantischen Emotionsornament nur durchscheint. Er verknappt den | |
Text leicht, internationalisiert das deutscheste aller Libretti mit | |
englischen, französischen und altgriechischen Passagen. | |
## Erlösung vom Erlösen | |
Ein wenig demokratisiert er es auch. Aus der Figur der Kundry entweicht das | |
misogyne und antisemitische Gift etwas, das „Parsifal“ zum Schlüsselwerk | |
Wagners macht. Anders, als es die Wagnerianer gerne hätten, ist das | |
musikalische Genie gerade nicht vom irrenden politischen Pamphletisten zu | |
trennen. | |
Erlösung dem Erlöser? Diesem Thema Wagners begegnet Lang, indem er eher die | |
Erlösung vom Erlösen sucht und einen neuen musikalischen Körper auf das | |
Ausgangswerk legt. Das bereitet, unabhängig vom musiktheoretischen | |
Bildungsgrad, intellektuelles Vergnügen. | |
Das Klangforum Wien unter der Leitung von Simone Young, der Arnold | |
Schoenberg Chor und ein mitreißendes Gesangsensemble fügen dem | |
intellektuellen Vergnügen ein sinnliches hinzu. Die besten Drogen sind noch | |
immer die, die das Bewusstsein heben, ohne es zu trüben. Der musikalischen | |
Abteilung strömt nach der Uraufführung von „MONDPARSIFAL ALPHA 1-8 | |
(ERZMUTTERZ DER ABWEHRZ)“ (Versalien sind Pflicht) im Theater an der Wien | |
ungeteilter Beifall entgegen. | |
## Wunden heilen | |
Jonathan Meese als Regisseur hatte wohl noch eine Rechnung offen mit | |
Wagners Nachfahrinnen, die dessen Familienunternehmen in Bayreuth noch | |
immer betreiben. Die seelische Wunde, die Meeses Rausschmiss auf dem Grünen | |
Hügel 2014 verursachte und seine für 2016 dort geplante | |
„Parsifal“-Inszenierung vereitelte, will er mit diesen Inszenierung wieder | |
schließen. | |
Meese schreitet vorab zur gewohnt überbordenden Pamphletproduktion. Darin | |
das Stakkato definitorischer Aussagen ohne empirischen Gehalt: „Kunst ist | |
…“ , die wohlfeile Verwerfung von Politik und Religion, stattdessen | |
Evolution, Zukunft, Kunst, Chefsache etc. Das hermetische Zeichensystem in | |
Meeses Kunst-Persona vereinte einst suggestive Kraft mit Erkenntniswert, | |
als sich noch Bruchstücke von Welt in dieses Spiel verirrten. | |
Dem vom Wiener Standard ins Netz gestellten, mehr als 20-seitigen stream of | |
consciousness, über den sich vergangene Woche die Frankfurter Allgemeine | |
Zeitung mokierte, folgte mittlerweile ein Digitalisat von 374 | |
Probennotizzetteln, alle fein säuberlich signiert. | |
Der Totalitarismus der Kunst ist vor allem ein überragender | |
kunstpolitischer Schmäh. Wie kaum ein anderer sieht Meese klar, dass in und | |
nach der Moderne das Kunstwerk am wenigsten für sich selbst spricht. Es | |
schiebt vielmehr eine wachsende Bugwelle an Kommentierungsbedarf vor sich | |
her. Die pamphletistischen Selbstdeutungen sind Abbrucharbeiten, die | |
poststrukturalistischen Diskursschwurbel und andere Konkurrenztheorien | |
verdrängen. | |
## Nagelprobe unterm Bühnenportal | |
Aber was erbt die Kunst dafür? Das Nietzsche-Ding, die Wiederkehr der | |
letzten Röchler von Subjektphilosophie, das heroische Aufbegehren des | |
einsamen Einzelnen gegen Verdinglichung, die das bürgerliche Subjekt doch | |
selbst in die Welt gesetzt hat durch die Verwandlung aller Bande zwischen | |
Menschen in Tauschbeziehungen. Meese macht dem Kunstmarkt ein unerwartetes | |
unzeitgemäßes Geschenk über alle Aporien der Moderne hinweg: die Wiederkehr | |
von Genie-Kunst, frei von allem Gesellschaftlichen. | |
Zu Unrecht wird Meese immer wieder mit seinem Parsifal-Vorgänger Christoph | |
Schlingensief in einem Atemzug genannt. Scheint in Schlingensiefs | |
messianischer Selbsterregung noch das Liebesmahl einer künftig befreiten | |
Gesellschaft durch, dreht sich bei Meese die ganze Übung nur ums Selbst und | |
sein Alleinstellungsmerkmal. Der Übermensch wird zur Ich-AG. Stumm und | |
ergriffen lauschen wir Zarathustras Erzaffirmator. So vorauseilend | |
marktkonform und kunstpolitisch kalkulierend war seit Wagners Zeiten selten | |
ein Akteur in diesem Feld. | |
Bleibt noch die Nagelprobe unterm Bühnenportal. Im ersten Akt schickt Meese | |
die Gralsritter auf eine desperate Mondexpedition. Der Schornstein der | |
Gralsburg im extraterrestrischen Gestein trägt die Aufschrift „Demut“, | |
darin ein paar Ritter und herumwuselnde Knappen mit Pagenkopf und | |
Vulkanierohren. Die Wunde, die der Bösewicht Klingsor (Martin Winkler) in | |
den Königskörper Amfortas’ (Tómas Tómasson) schlug, ist eine rotierende | |
Zielscheibe mit aufgemalter Spirale. Monumentale Bildkraft und das | |
unbekümmerte wie scheue Spiel mit den hehren Motiven halten sich noch die | |
Waage. Bald wird aber klar, dass Meese die „reine Torheit“ Parsifals | |
(Daniel Gloger) als Entsublimierung deutet, die sich intersubjektiver | |
Rücksichtnahmen einfach enthält. | |
## Barbarella trifft teutsche Recken | |
In Klingsors Zaubergarten des zweite Aktes spätestens, in dem Wagners | |
teutsche Recken für gewöhnlich um ihre keusche Männlichkeit fürchten, ist | |
Kundry mal Barbarella, mal Pocahontas. So wie es ihr Kanu darin | |
herumschleudert, kann auch Magdalena Anna Hofmann in dieser Rolle das alles | |
nicht zusammensingen. | |
Der dritte Akt landet in den repertoiretauglichen Gefilden eines | |
SängerInnenstehtheaters. So viel Stadttheater war in Wiens altehrwürdigstem | |
Opernhaus selten. Gelegenheit zum Ausstieg bietet die Überblendung des | |
Bühnengeschehens mit dem Feuertod der Nibelungen im Stummfilm. Irgendwie | |
hängt alles mit allem zusammen. Aber wo das so ist, bleibt nichts. Außer | |
einem Triumph für den listenreichen Bernhard Lang. Endlich einmal hören ihn | |
nicht nur die üblichen Verdächtigen mit Interesse an Neuer Musik. | |
6 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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