| # taz.de -- Kunstausstellung zu Luther in Wittenberg: Die Avantgarde in den Gef… | |
| > Reinste Teufelsaustreibung: Die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ | |
| > setzt der Euphorie über den Reformator etwas entgegen. | |
| Bild: Jonathan Meese hat sich selbst eingebuchtet, um den antisemitischen Teufe… | |
| Kann man Martin Luther einen Avantgardisten nennen? War er mit seiner | |
| Kritik am Ablasshandel, am korrumpierten Geschacher um Ämter in der | |
| katholischen Kirche und seinem Eifer, Bildungsstätten für Frauen zu öffnen, | |
| nicht ein [1][Vordenker seiner Zeit]? | |
| So einfach lässt sich das wohl nicht beantworten. Zum einen, weil es da | |
| noch die andere Erzählung des Reformators gibt: die des Judenhassers, auf | |
| den die blutigen Religionskriege folgten. Zum anderen, weil Luthers | |
| Rhetorik weniger das Voranschreiten als vielmehr die Rückbesinnung | |
| durchzog. Die Worte Jesu sollten wieder stärker in den Mittelpunkt rücken, | |
| in der Bibel noch mal gründlich nachgelesen werden. Die Vorstellung einer | |
| Avantgarde, die den Mainstream in Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft | |
| hinter sich herzieht, gilt zudem inzwischen als fraglich. | |
| Doch welch größere Frage könnte es in dieser Zeit geben, in der | |
| weltpolitisch das Bestehende so sehr ins Wanken gerät, als die: Was hilft? | |
| Die Reform, das Ausschöpfen des Vorhandenen, die zur Chiffre avancierte | |
| „Verteidigung der offenen Gesellschaft“? Oder braucht es eine ganz neue | |
| Vision, die dem aufstrebenden Rechtspopulismus entgegengesetzt werden kann? | |
| Eine avantgardistische, die sich von den Denkgerüsten des 20. Jahrhunderts | |
| verabschiedet. Bräuchte es für solch eine Vision nicht vor allem | |
| Kreativität? | |
| Der Titel „Luther und die Avantgarde“ der [2][neuen Ausstellung] in | |
| Wittenberg bietet Raum für diese Fragen. Die Ideen von Reformation und | |
| Avantgarde wurden hier in Beziehung gesetzt. An der Hauptwirkungsstätte | |
| Luthers stellen 66 internationale Künstler dieser Sommertage ihre Gemälde | |
| und Installationen in einem ehemaligen Gefängnis aus – gut fünf Minuten | |
| Fußweg von der Schlosskirche entfernt, wo Luther vor 500 Jahren seine | |
| Thesen ans Tor genagelt haben soll. Das einstige Gefängnis ist die zentrale | |
| Ausstellungsstätte, im Rahmen der Schau sind zudem noch Werke in Berlin und | |
| in Kassel zu sehen. | |
| ## Eigens für die Ausstellung geschaffene Kunst | |
| Dabei sind so viele große Namen der zeitgenössischen Kunstszene, dass der | |
| eine oder andere schon munkelte, hier werde mit Leihgaben von Museen und | |
| Sammlern etwas zu viel versprochen. Doch tatsächlich sind die meisten | |
| Kunstwerke eigens für die Ausstellung entstanden. Alle Künstler wurden | |
| selbst angefragt. | |
| Wie das Kuratorenteam rund um Walter Smerling sagt, soll die Ausstellung | |
| kein Porträt Martin Luthers darstellen – die Künstler sollten sich nicht | |
| mit Luther als Person, sondern mit dem Reformationsgedanken als solchen | |
| beschäftigen und ihn in die Gegenwart übertragen. Das alte Gefängnis stand | |
| gut 50 Jahre leer und wurde nun mit der Kunstschau erstmals für die | |
| Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die kargen Zellen sind zwischen sieben | |
| und elf Quadratmeter groß, nur wenig Licht fällt hinein. Erzeugt wird | |
| dadurch eine betäubende Stimmung für die Betrachter, wenn er oder sie sich | |
| durch das Labyrinth der kreativ beladenen Verliese und engen Treppenflure | |
| bewegen. | |
| Überrascht wird mit außergewöhnlichen Sichtweisen auf das | |
| Reformationsjubiläum: Etwa mit auffällig vielen chinesischen Künstlern. | |
| Wie sehen Chinesen Martin Luthers Reformation in einem alten Gefängnis in | |
| der ostdeutschen Provinz? | |
| Ai Weiwei ließ seinen Körper in Beton gießen und den quadratischen Stein in | |
| der Mitte teilen. Die zwei großen Klötze konnten gerade so in die Zelle | |
| geschoben werden. Saß er selbst einst im Gefängnis, ließ Ai Weiwei nun sein | |
| versteinertes Abbild in eine Zelle bringen. Damit verbindet er seine eigene | |
| Story, seinen Kampf für Meinungsfreiheit, mit der von Luther. | |
| ## Am Absoluten der Religionen kratzen | |
| Die Künstlerin Jia behängte Wände im Treppenhaus mit allen chinesischen | |
| Schriftzeichen, die während der Kulturrevolution Maos verboten wurden. In | |
| eine ähnliche Richtung geht das Werk von Jörg Herold. Er ritzte die im | |
| Koran zu findenden 99 Namen von Allah in arabischer Schrift in die Wand: | |
| etwa der Barmherzige, der Geduldige oder der Höchste. Der | |
| Absolutheitsanspruch von Religion wird hier kritisch behandelt. Damals wie | |
| heute ist Religion Auslöser für gesellschaftliche und kriegerische | |
| Konflikte. Herold selbst kann kein Arabisch, er will dafür werben, sich dem | |
| Unbekannten zu öffnen, wie er es selbst getan hat; es gleichzeitig aber | |
| auch kritisch zu hinterfragen. | |
| Der Pariser Künstler Christian Boltanski beschäftigte sich mit der Frage | |
| nach der Vergänglichkeit. Die ganze Zelle stattete er mit schwarzen | |
| Fotografien aus. Hinter seinen Bildern verstecken sich echte Menschen. Mit | |
| einem fotochemischen Prozess wurden die Negative von Porträts von Personen | |
| so bearbeitet, dass sie hinter schwarzen Flächen verschwinden. Steht der | |
| Betrachter vor den Bildern, schaut er im Glasrahmen auf sein Spiegelbild. | |
| Das Nicht-mehr-Sichtbare regt dazu an, sich der eigenen, vergänglichen | |
| Existenz zu stellen und den Wunsch vieler Menschen nach Unvergänglichkeit, | |
| dessen Einlösung ihnen die Religion verspricht, auch für Atheisten | |
| erfahrbar zu machen. Zu hören ist zudem ein lauter Herzschlag, aufgenommen | |
| vom Herzen des Künstlers selbst. Was bleibt nach dem Herzschlag? | |
| Erhellend stehen im Kontrast dazu die Werke von Monica Bonvicini und Ólafur | |
| Elíasson. Beide arbeiteten sich mit Lichtinstallation an der Metapher der | |
| Erleuchtung, wie im Englischen „Enlightment“, für das Zeitalter der | |
| Aufklärung ab. Die Reformation gilt als Grundstein für die Aufklärung: In | |
| den leuchtenden Installationen soll die Notwendigkeit der Teilhabe aller | |
| Gesellschaftsbereiche an politischen Fragen verdeutlicht werden. | |
| ## Grynszpan und die Reichskristallnacht | |
| Der Konzeptkünstler Achim Mohné installierte eine Freiluftarbeit im Garten | |
| des Gefängnisses. Das Mosaik zeigt ein Porträt Edward Snowdens aus der | |
| Vogelperspektive. Steht man aber als Besucher direkt davor, erkennt man | |
| nichts. Mohné will Snowden als „Nestbeschmutzer“ in eine Reihe mit Luther | |
| stellen. Beide machten Informationen zugänglich, die den Blick auf die Welt | |
| veränderten. Der Vergleich ist originell, es mangelt aber an tiefer | |
| gehender Reflexion. | |
| Ein Comic-Relief von Manuel Graf prangt außen am Gefängnis. Es spielt auf | |
| die „Judensau“ an, die als Abbild noch immer an vielen Kirchen hängt, seit | |
| 1305 auch an der Schlosskirche in Wittenberg. Sein Werk geht auf eine | |
| Stelle in der Bibel zurück, in der Schweine nicht länger als unrein gelten | |
| sollen. Graf führt damit vor, wie sich das diffamierende Bild der Judensau | |
| im Grunde selbst widerspricht. | |
| Der junge [3][jüdische Maler Yury Kharchenko] beschäftigte sich mit seiner | |
| Familiengeschichte, die bis zu seinem mutmaßlichen Verwandten Herschel | |
| Grynszpan zurückführt, der im November 1938 in Paris einen deutschen | |
| Diplomaten erschoss und dessen Tat die Nationalsozialisten propagandistisch | |
| für die Reichskristallnacht nutzten. Die Judenfeindlichkeit Luthers wird | |
| vom Künstler aufgegriffen und in seinen Gemälden mit Hakenkreuzen, | |
| Lutherbildern und Grynszpan-Porträts vermischt. | |
| Zwei Tage im Gefängnis verbrachte Jonathan Meese zur „Teufelsaustreibung“. | |
| Luthers Thesen stellt er 95 Thesen zur Kunst gegenüber. Ein wilder, | |
| vollgestellter Raum entstand. In seiner Wucht scheint die Zelle kurz vor | |
| der Explosion: Sex, Essen, Gewalt – Jonathan Meese bricht aus, will kein | |
| Gefangener mehr sein. | |
| ## Wider die Euphorie | |
| In der Gesamtbetrachtung schafft die Ausstellung in Wittenberg brauchbare | |
| Assoziationen zu aktuellen Fragen. Die bisweilen kritischen, radikalen | |
| Kunstwerke stellen der Euphorie im Lutherjahr etwas entgegen. Auf dem Dach | |
| des alten Gefängnisses ließ Künstlerin Ayşe Erkmen das Geländer des | |
| Schornsteins mit Blattgold veredeln. Ausstrahlen soll sie von hier. Die | |
| Avantgarde in den Zellen. In Wittenberg. Im Lutherjahr. | |
| 30 May 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!5402184/ | |
| [2] /!5407632/ | |
| [3] /!5407632/ | |
| ## AUTOREN | |
| Timo Lehmann | |
| ## TAGS | |
| Martin Luther | |
| Antisemitismus | |
| Jonathan Meese | |
| Ai Weiwei | |
| Protestanten | |
| Hitler | |
| Glaube, Religion, Kirchenaustritte | |
| Antisemitismus | |
| Martin Luther | |
| Martin Luther | |
| Martin Luther | |
| Jonathan Meese | |
| Reformation | |
| Reformation | |
| Martin Luther | |
| katholisch | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Prozess um „Judensau“ in Wittenberg: Unter aller Sau | |
| Am Landgericht Dessau-Roßlau wird die Beseitigung eines Reliefs an einer | |
| Kirche verhandelt. Das Motiv spielt auch heute eine Rolle im | |
| Antisemitismus. | |
| 95 steile Thesen: Wir haben einen Anschlag auf Sie vor! | |
| Luther, der alte Partyboy, soll dem Loveboat taz ein Vorbild sein. Thesen | |
| haben wir auch jede Menge, bitteschön – und am Ende kann man was gewinnen. | |
| Theologe Klaus Berger über Luther: „Ich glaube an Gott, nicht an Wunder“ | |
| Der Theologe Klaus Berger polarisiert. Er spricht über den ängstlichen | |
| Martin Luther und warum nur radikale Positionen die Kirche weiterbringen. | |
| Lutherjahr in Wittenberg: Zwölf Glaspaläste | |
| Vor 500 Jahren schlug Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche in | |
| Wittenberg. Kunst und Wissenschaft erinnern dieses Jahr daran. | |
| Jonathan Meese macht Wagner in Wien: Der Übermensch wird zur Ich-AG | |
| Ein Pamphlet als Oper? Meese ist aber kein Schlingensief. | |
| Neuinterpretationen von Mozart und Wagners „Parsifal“ auf den Wiener | |
| Festwochen. | |
| Martin Luther und die Juden: Auf der Suche nach Aron Grynszpan | |
| Lange verdrängte der Maler Yury Kharchenko die Frage „nach dem Jüdischen in | |
| mir“. Seine Kunst ist davon inspiriert, Luthers Judenhass verfolgt ihn. | |
| Ausstellung „Sankt Luther“ in Berlin: Ein Fetzen vom Rock des Reformators | |
| Mit der Ausstellung „Sankt Luther“ will das Stadtmuseum Berlin den Kult um | |
| den berühmten Wittenberger aufarbeiten. | |
| Die Wahrheit: Verschluckbare Kleinteile | |
| Hätte man einen Glauben, müsste man wegen der Luther-Devotionalien zum | |
| Reformationsjubiläum sofort von ihm abfallen. | |
| Das katholische Alleinstellungsmerkmal: Gebt uns Ablass! | |
| Erst nach Luthers Kritik hat die katholische Kirche den Ablass zum | |
| Instrument der Steuerung perfektioniert, das nicht mehr nur als schnödes | |
| Fundraising rüberkommt. |