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# taz.de -- Martin Luther und die Juden: Auf der Suche nach Aron Grynszpan
> Lange verdrängte der Maler Yury Kharchenko die Frage „nach dem Jüdischen
> in mir“. Seine Kunst ist davon inspiriert, Luthers Judenhass verfolgt
> ihn.
Bild: „Ich stehe zu meiner Identität“ – Yury Kharchenko in Berlin
Essen/Berlin taz | Weil die Geschichte mit den Juden so ist, wie sie ist,
und sich nicht mehr ändern lässt, heißt Yury mit Nachnamen Kharchenko. Seit
Jahren überlegt der Berliner Maler, seinen Namen zu ändern in Aron
Grynszpan. So würde er, 30 Jahre alt, wohl heißen, hätte sein Großvater
als Rotarmist im Zweiten Weltkrieg nicht seinen Namen in Kharchenko
geändert, um seinen jüdischen Hintergrund zu verwischen.
Yury Kharchenko beschäftigte sich in den vergangenen Jahren viel mit seiner
Familiengeschichte, vor allem mit einem seiner wahrscheinlichen Vorfahren,
dessen Leben Geschichte geschrieben hat: Herschel Grynszpan. Von dieser
historischen Figur gibt es Fotos im Internet, die Yury Kharchenko mehrfach
zu einem Gemälde inspirierte.
Vor einem dieser Porträts steht der Maler am Sonntagnachmittag, 7. Mai in
der Alten Synagoge in Essen. Es findet die Vernissage seiner Ausstellung
statt. Sie trägt den Titel: „Auf der Suche – Zwischen den Identitäten“.
Yury Kharchenko, blaues Hemd, dunkle Haare, neigt den Kopf immer leicht
nach vorn, wenn er zu den Besuchern spricht. Er ist stämmig gebaut, nicht
groß gewachsen. Apricot Wände und betongraue Jugendstil-Elemente bestimmen
den hohen Kuppelsaal, der nun mit 25 von Kharchenkos Werken ausgestattet
ist.
Ganz in der Mitte vor den Bankreihen: das zentrale Werk auf einer
Staffelei. Das Ölbildnis von Herschel Grynszpan, das Motiv in einer
schwarzen Jacke, weit offene Augen, umgeben von einem hellblauen Schweif
vor grünem Hintergrund. „Alle Hinweise sprechen dafür, dass er ein Vorfahr
von mir ist“, sagt Yury Kharchenko mit seinem rollenden r und seiner
tiefen, im Saal leicht hallenden Stimme.
## Es geschah im November 1938
Die Geschichte von Kharchenkos wahrscheinlichem Vorfahren führt knapp
achtzig Jahre zurück. Paris, Herbst 1938. Herschel Grynszpan ist 17 Jahre
alt, hat ein weiches Gesicht mit dicken Augenbrauen. Geboren wurde er in
Hannover, seine Eltern stammten aus Polen, mit 15 floh er illegal, ohne
seine Familie, zu einem Onkel nach Paris.
Allen Hinweisen nach verbringt Herschel Grynszpan im besagten Herbst von
1938 viel Zeit in den Schwulenbars von Paris, wo er auf den jungen
deutschen Diplomaten Ernst Eduard vom Rath trifft. Bis heute weiß niemand,
in welcher Beziehung die beiden zueinander standen.
Am 3. November 1938 erhält Herschel Grynszpan eine Postkarte seiner
Schwester Berta, die ihm von der sogenannten Polenaktion der Nazis
berichtet: Wie sie über Nacht als polnische Juden aus Deutschland nach
Polen ausgewiesen wurden, Hannover verlassen mussten, und bittet ihren
Bruder um Geld, weil ihnen alles genommen wurde.
Am 7. November kauft sich Herschel Grynszpan für 235 Franc einen Revolver,
lässt sich in das Zimmer in der deutschen Botschaft zu seinem Bekannten
Ernst Eduard vom Rath bringen, greift in seine Manteltasche, schießt fünf
Mal und ruft „sale boche“, „dreckiger Deutscher“. Der Attaché stirbt a…
darauf, Grynszpan wird festgenommen, später nach Deutschland gebracht. Wie
sein Leben genau, ja gar, ob es überhaupt endete, gilt als ungeklärt.
Sicher ist aber: Die NS-Führung nutzt das Attentat des Juden auf den
Diplomaten propagandistisch für ihre Pogrome. Am 9. November brennen die
Synagogen. Auch die Alte Synagoge in Essen wird angezündet und der
Innenraum dabei fast vollständig zerstört.
2017 sitzt Yury Kharchenko nach seiner Vernissage mit seiner Mutter in
einem Restaurant. „Wir wussten von dieser ganzen Geschichte nichts“, sagt
die kleine, zierliche Frau. 90 Prozent aller in Deutschland lebenden Juden
sind heute russischer Herkunft. Als Spätaussiedler kam auch sie, Anna
Gorodetskaya, Biologin, mit ihrer Tochter und ihrem Sohn Yury vor zwanzig
Jahren von Moskau nach Dortmund. Als er sechs Jahre alt war, ging er auf
eine Kunstschule in Moskau. Erst im deutschen Schulunterricht erfuhr er vom
Ausmaß des Holocaust.
## „Scheiß jüdische Mutter“
In Russland stand „jüdisch“ in dem Pass von Anna Gorodetskaya, sagt sie,
das Jüdische war in ihrer Generation aber bereits vom Sowjetregime
erfolgreich unterdrückt. Jüdische Bräuche kannte die Familie nicht, immer
wieder wurde Yury das Judesein von außen zugetragen. Ein Kunstlehrer
meinte, „jüdische Einflüsse“ in seinen Werken erkannt zu haben. Ein
anfänglicher Unterstützer, ein Kunstprofessor in Düsseldorf, redete sich im
Streit in Rage und sagte dem Jungtalent, er solle zu seiner „scheiß
jüdischen Mutter“ gehen.
Von 2004 bis 2008 studierte Kharchenko an der Kunstakademie in Düsseldorf.
Als zwei Männer ihn auf offener Straße zusammenschlugen und von dem „Juden
sein Geld“ forderten, verließ Yury Kharchenko aus Angst die Stadt und zog
nach Berlin.
Ein Prozess startete: „Was ist das Jüdische in mir?“, fragte er sich, was
da so viele in ihm sehen wollen. Bei der amerikanischen Ronald S. Lauder
Foundation lernte er die jüdische Kultur kennen. Zunehmend wollte er diese
Selbstentdeckung mit seinem Werk verbinden. Die Dichtung von Paul Celan hat
ihn besonders geprägt. Das Religiöse wurde immer stärker.
## Zu viel Religion
Wenn Yury Kharchenko von dieser Selbstfindung in der Religion spricht, hält
sich seine Mutter zurück. Nur einmal sagt sie: „Es war zu viel mit der
Religion.“
An der Westküste der Türkei lernte der Maler eine russische Frau kennen,
eine Nichtjüdin aus Kasachstan. Es begann für ihn ein Ringen mit den
jüdischen Regeln. Der Künstler verliebte sich, hielt die Beziehung einige
Jahre aufrecht, trotz seiner verstärkten Anbindung zur jüdischen Religion,
die diese Liebe nicht zuließ.
Yury Kharchenkos Vater, der noch immer in Moskau lebt, erzählte ihm in
dieser Zeit von seinem Großvater Grynszpan und der Verbindung zu Herschel
Grynszpan. Yury Kharchenko fuhr nach Sachsenhausen in ein
Konzentrationslager, konfrontierte sich direkt mit der Geschichte.
## Worte von Paul Celan
Kharchenkos Kunst verbindet oft Konkretes mit Abstrakten. Auf den meisten
seiner Bilder liegen wässrige Stränge: Rinnende bunte Farbe schafft
kräftige Kontraste. In einigen sind Figuren zu erkennen, etwa
mittelalterliche Motive. In seinem Werk tauchen Zitate quer durch die
Kunstgeschichte auf. Auch das Haus, nach dem er sich sehnt, da wo Yury
Kharchenko dazugehört, ganz und gar, findet sich in vielen Werken als
Dreieck. Das Jüdische, einst wollte er es nicht, steckt in seinen neueren
Werken als ganz direkte Aussage. In Form von Porträts von Rabbis, Symbolen,
auch Worte von Paul Celan stehen auf einigen Bildern.
Früher hatte er das Gefühl, nicht-jüdische Deutsche würden sich von ihm
wünschen, „bloß nicht etwas Besonderes daraus zu machen, dass ich Jude
bin“. Heute denkt er anders, selbstbewusster: „Ich stehe zu meiner
Identität.“ Vielmehr habe die Beschäftigung damit einen Einfluss auf seine
Arbeit, den er nicht leugnen will.
In dem Flur vor seinem Atelier steht ein Porträt von Martin Luther. Er
malte ihn mit sanften Augen, orientiert sich an dem berühmten Gemälde von
Lucas Cranach den Älteren. Kaum zu erkennen hat er über den Kopf von
Luther, im schwarzen Hintergrund, ein nahezu unsichtbares Wort geschrieben:
„Grynszpan“.
## „Von den Juden und ihren Lügen“
Auch mit dem Judenhass Martin Luthers beschäftigte sich Kharchenko. Drei
Jahre vor seinem Tod schrieb der damals 60 Jahre alte Luther ein Hassstück
gegen die Juden und forderte „brennende Synagogen“. „Was wollen wir
Christen nun tun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden?“,
schrieb er in seiner Schrift: „Von den Juden und ihren Lügen“. Stellte er
sich einst schützend vor sie, sah er sie in seiner Spätphase nur noch als
Gefahr seines Lebenswerks. Im Herbst 1938 wurden Luthers Forderungen in die
Tat umgesetzt.
Bei der Ausstellung in der Alten Synagoge in Essen stellte Kharchenko auch
ein schwarzes Gemälde mit einem Lutherzitat auf: „Ich bin entschuldigt“.
Im ganzen Saal platzierte er an den Seiten umgedrehte, schwarz bemalte
Bilderrahmen. „Schwarz, wie verbranntes Holz, oder?“, sagt er. Doch ganz
schwarz sind sie nicht. Es sind kleine, bunte Einheiten eingearbeitet, die
man nur bei näherem Betrachten genau sehen kann. Kharchenkos Kunstwerk ist
ein kritisches, aber kein düsteres: „Ich will dahin, wo es wehtut, um
darüber zu sprechen.“
Ab dem 19. Mai wird Yury Kharchenko in Wittenberg ausstellen. Anlässlich
des 500. Jubiläums von Luthers Thesenanschlag findet dort die Ausstellung
„Luther und die Avantgarde“ statt. 70 internationale Kunstgrößen werden in
Wittenberg, Kassel und Berlin vertreten sein. Unter ihnen: Ai Weiwei,
Anselm Kiefer, Günther Uecker – sie alle beschäftigten sich mit dem
Reformationserbe. Yury Kharchenko alias Aron Grynszpan wird für die
Schattenseiten zuständig sein.
19 May 2017
## AUTOREN
Timo Lehmann
## TAGS
Reformation
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