# taz.de -- Festwochen in Wien: Grenzen des Blickfelds | |
> „Missing People“ von Béla Tarr ist eine Filminstallation mit Obdachlosen | |
> und über Obdachlose. Sie verliert sich in der eigenen Schönheit. | |
Bild: Viele Gesichter, die von den Entbehrungen des Lebens auf der Straße geze… | |
Die Deko im Bühnenraum der Halle E im Wiener Museumsquartier sieht aus, als | |
habe der Saisonabschluss der Festwochen schon am Vorabend stattgefunden. An | |
den langen Seiten findet das Publikum auf zwei zweistufigen Podesten Platz. | |
Dazwischen in unregelmäßiger Folge: weiß bespannte und rot gedeckte | |
Stehempfangstische. Alles ist ein wenig verrutscht. Halbleere Weingläser, | |
Karaffen mit eingetrocknetem Bodensatz, hier und da liegen noch ein paar | |
Schnittchen auf den Tellern, meist aber nur zerknüllte Papierservietten | |
oder Bremsspuren, die der letzte Bissen Baguette durch die Mayonnaise | |
gezogen hat. | |
Ein Vorhang öffnet sich und gibt an der Stirnseite des Raumes eine | |
Projektion frei. Sie zeigt das gegenüberliegende Portal des einstigen | |
Prunksaals. Hier beginnt über mehrere Minuten ungeschnitten eine langsame | |
Kamerafahrt durch den Raum, ihr Blick gleitet vom roten Teppich weiter über | |
die Tische. | |
In der nahen Distanz schwindet die Schärfentiefe des Bildes auf ein | |
Minimum. Bruchkanten eines umgestoßenen Glases, ein aufgebogener | |
Kronkorken, eine ausgelöste Gräte am Tellerrand ragen immer nur kurz mit | |
klaren Konturen ins Bild, um sogleich wieder in den Limbus der Unschärfe | |
zurückzufallen. Selbst Konfetti und achtlos weggeworfenes Stanniolpapier | |
wirken darin vor dem Rot des Teppichs wie Sternenstaub. | |
Mit seinem Opus magnum „Satanstango“ (1994) wurde der ungarische | |
Filmregisseur Béla Tarr zu einem der großen Lehrmeister des Sehens im | |
europäischen Kino. Die Macht seiner Bilder durchbricht den Schleier aus | |
Regeln und Vorurteilen, mit denen im Kino die Realismen aller | |
Glaubensrichtungen Wirklichkeit behaupten. Allein die Grenzen des | |
Bildfeldes und der Schärfeebene heben Menschen, Dinge, Orte aus ihren | |
funktionellen Zusammenhängen und geben ihnen in langen Einstellungen ohne | |
Schnitte verblüffende Eigenzeit. | |
Die über siebenminütige Eingangszene von „Satanstango“, in der eine | |
Kuhherde im düsteren Schwarz-Weiß einen verlassenen Bauernhof durchstreift, | |
gehört als Augenöffner wohl in jedes Proseminar zur Filmtheorie. So | |
spekulativ Tarrs Bilderzeugungsverfahren auch sind, man kann sich ihrer | |
Suggestion kaum entziehen. Obendrein hat die Ankündigung, „Das Turiner | |
Pferd“ (2011) sei sein unverbrüchlich letzter Film, die Adepten noch | |
feierlicher gestimmt. | |
## „Missing People“ verschiebt die Frage nach Gerechtigkeit | |
Bei den Festwochen zeigt Tarr dann doch Neues. „Missing People“ ist eine | |
Filminstallation mit und über Obdachlose auf drei Projektionswänden. | |
Nachdem das geplünderte Buffet als Vanitas-Mahnung abgespielt ist, | |
schwinden auch Lug und Trug der Farbe. Es herrscht von nun an sattes | |
Schwarz-Weiß mit tiefen Schatten, die die kargen Lichter erst recht | |
leuchten lassen – physikalisch wie metaphysisch. | |
Die Kamera schweift über eine lange Reihe von Gesichtern, die von den | |
Entbehrungen des Lebens auf der Straße gezeichnet sind, aber den behausten | |
EintrittskarteninhaberInnen durchaus gefasst entgegenblicken. Wo sind die | |
Fleischtöpfe für die Mühseligen und Beladenen? Sie werden im Kreis tanzen | |
und sich später an Brot, Wein und allem, was dazugehört, laben. Dass sie | |
das Chaos an den Tischen hinterlassen haben könnten und nicht die üblichen | |
Society-Schnorrer, stimmt für einen Moment froh. | |
„Missing People“ verschiebt die politische Frage nach Gerechtigkeit | |
innerhalb einer Gesellschaft zum moralisch-theologischen Diskurs darüber, | |
was sie als Ganzes gerecht machen kann. Das Projektionstriptychon wirkt | |
aufs Publikum ungefähr so wie die Kreuzwegmalerei in katholischen Kirchen | |
früherer Zeiten auf die Gläubigen. | |
Massenszenen wechseln sich ab mit individuellen Einstellungen derer, die | |
die Kamera bei ihrem Namen gerufen hat, um ihr Antlitz und ihre bisweilen | |
erstaunlichen Fertigkeiten zu zeigen. Bis auf ein Flötenspiel und ein | |
kurzes Gebet bleiben sie stumm – und so unglaublich schön in den | |
Bildformeln christlicher Ikonografie, bis spontanes Unbehagen einen aus der | |
wohligen Betrachtung schroff aufweckt. | |
Schlafsack an Schlafsack betten sich die DarstellerInnen unter einem | |
langsamen Kameraschwenk zur Nacht. Wie hätte die Festivalleitung reagiert, | |
wenn sie nach dem Erwachen einfach nicht gegangen wären? Die Halle böte | |
trefflich Schutz vor Wind, Wetter und anonymer Gewalt. Was war der | |
Tagessatz der am Dreh Beteiligten? Was würden sie erzählen, wenn man mit | |
ihnen sprechen könnte? | |
Hätte Probenarbeit so weit zur Selbstermächtigung führen können, dass sie | |
sich in einer Konfrontation mit Publikum als Handelnde und nicht als | |
Schauobjekte hätten erfahren können? Was ändert der Umstand, in der Kunst | |
auf diese Weise sichtbar geworden zu sein, an ihrem weiteren Leben? Sie | |
stehen Modell für ein Streben nach Schönheit, die schon der nächste Tag | |
ihres Lebens der Lüge bezichtigt. | |
17 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
## TAGS | |
Wiener Festwochen | |
Obdachlosigkeit | |
Installation | |
Kino | |
Wiener Festwochen | |
Populismus | |
Jonathan Meese | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Iranisches Sozialdrama im Kino: Mitschuld ohne Sühne | |
Vahid Jalilvand erzählt in seinem Kinofilm „Eine moralische Entscheidung“ | |
mit hohem Tempo die Geschichte eines Unfalls. | |
Wiener Festwochen: Die toten Fische bleiben | |
In seinem zweiten Programm der Wiener Festwochen hat Intendant Tomas | |
Zierhofer-Kin auf bürgerliche Repräsentation gesetzt. Ein Rückblick. | |
Festwochen in Wien: Entlastungsrituale in der Geisterbahn | |
Mit der Performance „Phobiarama“ stellt Dries Verhoeven in Wien die | |
richtigen Fragen zum Rechtspopulismus, verfährt sich aber in der | |
Affirmation. | |
Jonathan Meese macht Wagner in Wien: Der Übermensch wird zur Ich-AG | |
Ein Pamphlet als Oper? Meese ist aber kein Schlingensief. | |
Neuinterpretationen von Mozart und Wagners „Parsifal“ auf den Wiener | |
Festwochen. |